Der Begriff "Gottesbilder" meint im allgemeinen Gebrauch
inhaltlich gefasste Gottesvorstellungen, Konzepte einer
Entität, die ein jeweiliges Glaubenskollektiv begründet.
Diese Konzepte können sich je nach Kulturkreis, politischem
Framing, gesellschaftlichem Kontext und konkreter
Aktualisierung erheblich unterscheiden, selbst da, wo "der
gleiche Gott" gemeint sein mag, wie im avancierten
interreligiösen christlich-islamischen Dialog.
Für den substanzialistisch orientierten
Religionswissenschaftler Gustav Mensching steht hinter allen
Gottesbildern die gemeinsame "Erfahrung des Heiligen", sie
meinen ihm zufolge eine und die gleiche Entität. Und so
nennt er in seiner bemerkenswerten religionsgeschichtlichen
Publikation von 1960 alle Verkünder, Propheten,
Religionsgründer "Söhne Gottes" - die "Töchter" im Banne der
Überlieferungsgeschichte ignorierend. Gleichwohl ist seine
Arbeit ein gutes Sprungbrett für die übergreifende
Beschäftigung mit Gottesvorstellungen.
Gewiss kann das Wort "Gottesbilder" auch Abbildungen,
bildliche Konkretionen einer jeweiligen Gottesvorstellung
benennen - wofür in der Regel allerdings Ausdrücke wie
"körperliche Darstellung des Göttlichen" oder "bildliche
Darstellung Gottes" verwendet werden. Auf dieser Seite geht
es um Konzepte. Konkrete Bilder, Abbildungen werde ich nur
ergänzend einstreuen, sie den Kurzessays zu
Gottesvorstellungen beigesellen. Dem eingedenk, dass diese
Bilder stets Konzepte zur Grundlage haben, sie deuten,
stützen, kommunizieren.
Im Fokus steht jeweils entweder ein Prinzip, eine sich auch
in Götterpluralitäten durchhaltende oder aufscheinende
Macht, Entität, Wesenheit - oder eine in einzelnen
Gottheiten oder Gottesvorstellungen konkretisierte
spezifische Auffassung des Numinosen von übergeordneter
Bedeutung. Ich folge dabei meinen eigenen Interessen und
Erfahrungen, bin aber auch bemüht, einen leitenden Überblick
zu bieten, ein bruchstückhaftes Mosaik dessen, was
historisch partikular "Gott" hieß oder bedeuten konnte.
Allen hier vorgestellten Gottesbildern gemeinsam ist eine
monotheistische Tendenz. Auch wenn noch immer oft zu lesen
ist, der (jüdisch-christliche) Monotheismus sei eine
Weiterentwicklung aus dem (griechisch-römischen)
Göttergewimmel: Ich folge hier heuristisch der Auffassung,
dass die Unterscheidung Monotheismus versus Polytheismus
keine substantielle Grundlage habe, dass diese beiden
Kategorien unterschiedliche funktionale Ansprüche an
Religion reflektierten. Sie können so nebeneinander
Anwendung finden, als Konstruktionen unterschiedlicher
Perspektiven.
Gustav Mensching, Die Söhne Gottes. Aus den Heiligen
Schriften der Menschheit, Wiesbaden: Löwit, 1960
Abbildung: Druck aus der Hiob-Serie Gustave Dorés.
INHALT
Sintflutbericht - Kubaba - Mutter Erde - Echnatons Aton -
Altes Testament - Mithras - Enūma eliš - Brahman-Atman -
Hieros Gamos - Ahura Mazda - Buddha - Neues Testament -
Manichäismus - Islam - Das Dritte Reich des Geistes - Deus
sive natura - Der persönliche Gott bei Edith Stein - Die
Namen Gottes - Der Fall Rautavaara
Die Reihung der Texte folgt einem groben zeitlichen Muster,
das angesichts der oft unklaren oder unzureichenden Befunde,
der Gleichzeitigkeiten und Überlappungen sowie der komplexen
geschichtlichen Entwicklung der Konzepte in oft unklaren
Wechselbeziehungen nicht zu eng genommen werden darf.
Sintflut - Strafender und helfender Gott
Der älteste überlieferte Sintflut-Bericht findet sich auf
der 11. Tafel des Gilgamesch-Epos. Das Epos ist wohl in der
Spätbronzezeit, ab etwa 1.800 vor Christus, entstanden und
zuletzt etwa 1.200 vor Christus überarbeitet, von
Sin-leque-unnini, überliefert in sumerischer Keilschrift.
Erhalten sind vor allem große Teile der Tafeln von 1.200,
aber auch Fragmente des Urtextes.
Gilgamesch (ein legendärer König von Uruk, erstmals belegt
2.600 v. Chr., zu zwei Dritteln Gott, einem Drittel Mensch)
berichtet von seinem Vorfahr Utnapischtim (Uta-napischti),
von dem er das Geheimnis der Unsterblichkeit erwartet hatte,
die Götter, allen voran die oberste Gottheit Enlil, Sohn von
An, hätten eine Sintflut gesandt, die sechs Tage währte und
am siebten Tag zur Ruhe kam. Utnapischtim sollte auf Anraten
von Ea ein Schiff bauen, um für die Menschen, die keine
"Sünder" und "Frevler" waren, das Überleben zu sichern (11.
Tafel, Kolumne IV). Er belud das Schiff mit Silber und Gold
und "mit allerlei Lebenssamen", nahm seine "ganze Familie
und Verwandtschaft, Vieh des Feldes, Getier des Feldes (und)
alle Werkleute" mit (11. Tafel, Kolumne II). Damit
begründete er eine neue Schöpfung, nachdem er mit seiner
Arche sieben Tage auf dem Berg Nissir festen Grund gefunden
hatte (11. Tafel, Kolumne III). Utnapischtim und seine Frau
werden dann von Ea zu Göttern erklärt (11. Tafel, Kolumne
IV) - während später bei Noah nur ein "neuer Bund" zwischen
Gott und den Menschen geschlossen wird.
Das hier aufscheinende
Gottesbild ist höchst diffus, Menschen, Helden und Götter
sind nicht scharf geschieden, die Welten greifen ineinander,
Hierarchien sind flüchtig, jede Stadt besitzt eine eigene
zentrale Gottheit, Streit unter den Göttern scheint Alltag.
Eine herausragende Rolle spielt allerdings Ea/Enik, höchste
Gottheit der Stadt Eridu, der vermutlich ältesten
sumerischen Stadtgründung, mit Verweisen zurück ins 6.
vorchristliche Jahrtausend. Ea ist Schöpfergott,
Weisheitsgott und dem Süßwasser zugeordnet. Auf ihn geht
letztlich die Neubegründung der Menschheit nach der Sintflut
zurück. Und bemerkenswerterweise werden Utnapischtim und
seine Gattin nicht als seine Kinder angesehen (wie wir das
zeitgleich aus Ägypten kennen), sondern bleiben autonome
Wesen, deren Erhebung zu Göttern durch Ea primär dem Zweck
zu dienen scheint, die Menschheit zu erhalten.
In der Forschung wird der Sintflutbericht eher als ein
Exkurs des Gilgamesch-Epos angesehen. Kennen wir doch aus
Mesopotamien auch andere Fassungen des Sintflutberichtes,
unabhängig vom Gilgamesch-Epos, vor allem die mit dem
Heldennamen Atrachasis statt Utnapischtim. Doch neuere Funde
zur 10. Tafel erlauben auch eine Deutung, die dem
Sintflutbericht eine Schlüsselrolle im Epos zuweist.
Gilgamesch sucht die Unsterblichkeit. Und er findet den
unsterblichen Utnapischtim, der ihm auf den ersten Blick zu
seinem Erstaunen vollkommen ähnlich ist, der ihm erzählt, er
(und seine Frau nebenbei auch) habe die Unsterblichkeit von
Enlil, nach Tadel durch Ea (nach älterer Forschung von Ea)
gleichsam geschenkt bekommen, nachdem sie die Menschheit neu
begründet hatten. Unsterblichkeit als Resultat des
Nicht-Aufgebens, als Resultat einer Bewährung trotz extremer
Widrigkeiten? Und noch eine andere zentrale Botschaft
enthält das Epos. Auf der 10. Tafel fragt Utnapischtim den
Gilgamesch, ob er sich denn schon jemals "um den einfachen
Mann (...) gesorgt" habe? Seine Aufgabe als König sei doch
"Erhebe du sein Haupt"! Gilgamesch: Der erste Bildungsroman
der Menschheit!? Der Sintflutbericht erscheint nun als
zentrale Lehre für Gilgamesch, dessen Heldentaten, die
Erschlagung Humbabas und die Tötung des Himmelsstiers, vor
der Folie des Sintflutberichts erheblich an Glanz verlieren,
ja problematisch werden.
Spätere Sintflutberichte kennen wir auch aus anderen
Kulturräumen, am prägnantesten aus dem Hinduismus mit der
Figur des Vaivasvata, dessen Geschichte im
Śatapatha-Brāhmaṇa und im 3. Buch des Mahabharata erzählt
wird, mit ähnlichen Berichten in der Matsya-Purana und der
Bhagavata-Purana, und aus dem Judentum mit der Geschichte
Noahs im Alten Testament. Weniger stark literarisch
überformt kennen wir Legenden einer großen Überschwemmung
von den Inuit, den australischen Aborigines und vielen
anderen Kulturen. Es ist noch offen, ob dahinter eine
gemeinsame Katastrophen-Erfahrung, mehrere verschiedene
Ereignisse oder eine Mythenwanderung sich verbergen.
11. Tafel zitiert nach: Carl Bezold,
Babylonisch-assyrische Texte. Schöpfung und Sintflut,
Bonn: Marcus und Weber's Verlag, 1911 10. Tafel zitiert nach: Stefan Maul, Das
Gilgamesch-Epos, Beck, 2005
Abbildung: Gilgamesch und Enkidu
erschlagen Humbaba im Zedernwald, 19.-17.
Jahrhundert vor Christus
Kubaba - Tavernenwirtin und Große Mutter
Eine der ältesten namentlich bekannten weiblichen Gottheiten
ist die hurritische Kubaba (Ku-Baba, Kubabat, kbb, Kug-Bau),
dokumentiert in Kültepe/Kaniš im 19. Jahrhundert vor
Christus als Kubabat und als Stadtgöttin von Karkamiš am
oberen Euphrat vor der Eroberung durch die Assyrer als
Kubaba.
Kubaba wurde mit Granatapfel,
Spiegel und Getreideähren (Gerste) als Attributen
dargestellt. Ihre Symboltiere waren Adler, Stier und Löwe -
letzteres möglicherweise in Anlehnung an Ishtar. Geschrieben
wurde ihr Name mit einer Vogel-Hieroglyphe, wobei es in der
Forschung zu verschiedenen Zuschreibungen kam: Adler, Falke,
Taube. Im Anschluss an Helck, der die traditionellen
Deutungen von Fruchtbarkeitskulten und insbesondere
weiblichen Gottheiten als Fruchtbarkeitsgottheiten in Frage
stellt, könnten die Ähren auf das Bierbrauen bezogen werden.
Kybele behielt die Attribute Granatapfel und Ähren,
gelegentlich erscheint sie auch mit Löwe, und ihre Krone in
Stadtmauergestalt könnte als römische Umdeutung auf die
Kopfbedeckung der ältesten Kubaba-Reliefs zurückzuführen
sein.
Der Name Kubaba erscheint auf der sumerischen Königsliste
als Königin unter der 3. Dynastie von Kish, etwa 2.400 vor
Christus, mit dem Hinweis "Wirtin der Taverne". Andere Texte
nennen die Königin "Bier-Frau". Auf der Königsliste wird
später, um 2.830, ein Puzur-Suen/Puzur-Sin als Sohn von
Kug-Bau geführt. Bei der Geburt von Zwittern wurden diese
Kubaba zugesprochen. Es ist nicht letztlich geklärt, ob die
beiden Kubabas identisch sind. Doch einige Parallelen
verweisen darauf und es ist zu vermuten, dass die Königin
Kubaba zur Stadtgöttin von Karkamiš über Handelsbeziehungen
mit Kiš wurde. Helck weist darauf hin, dass die Ausbreitung
des Kubaba-Kultes entlang von Handelsstraßen erfolgte (Helck
1971, S. 246).
Was als "Tavernenwirtin" benannt wurde, dürfen wir bei
Kubaba (wie auch bei Ishtar, die gelegentlich so erscheint -
etwa auf der 10. Tafel des Gilgamesch-Epos) durchaus nicht
nur mit Ausschank, sondern auch mit (Tempel-)Prostitution
verbinden. Berichtet wird von den Kubaba-Kulten der
Zusammenhang mit blutigen und bacchantischen Ritualen. Gatte
von Kubaba war Karhuha.
Es gibt Spekulationen, dass die spätere phrygische Göttin
Kybele (Matar Kubile, Kybebe) mit Kubaba identisch sei.
Davon geht etwa Helck aus (Helck 1971, S. 244f) - und
verweist neben den Namensüberlagerungen unter anderem auf
die beide auszeichnende geschlechtliche Doppelbestimmung.
Allerdings spalteten sich von Kybele schon in frühen
Darstellungen aus dem 7. Jahrhundert vor Christus, die
ikonographisch an Kubaba erinnern, Kinderfiguren ab
(männlich-weiblich), später Attis als ihr Geliebter. Der
Kybele-Kult verbreitete sich unter Titeln wie "Göttin vom
Berg Ida" und "Große Mutter" in der ganzen Region
("kubileya" bedeutet "vom Berg"). Für Helck ist damit jedoch
keine Fruchtbarkeitsgöttin benannt. Signum von Kubaba/Kybele
seien nach ihm Sexualität und weibliche Machtausübung.
Auch Kybele wurde mit bacchantischen und blutigen Ritualen
in Verbindung gebracht. Bis 400 vor Christus hatte sich ihr
Kult im gesamten griechischen Raum ausgebreitet und 205 vor
Christus zog die Göttin mit einem ihr zugeordneten
Meteoriten-Brocken in Rom ein und eroberte im Gefolge das
gesamte Römische Reich als "Magna Mater". In Neuss wurde
1956 ein Kybele-Kultkeller noch aus der Spätantike
ausgegraben, der möglicherweise "Bluttaufen" diente.
Lektüreempfehlungen:
Wolfgang Helck, Betrachtungen zur großen Göttin und den
ihr verbundenen Gottheiten, München/Wien: Oldenbourg, 1971
Sabine Viktoria Kofler, Kybele in Griechenland, in:
historia.scribere 10/2018, Universität Innsbruck online
Abbildung: Relief aus Karkamiš mit einer
Darstellung Kubabas mit Granatapfel und Emmer aus dem 9.
Jahrhundert vor Christus
"Mutter Erde" in der Atharvaveda
Die Atharvaveda ist eine Textsammlung des Hinduismus, die
vor allem Zaubersprüche, Darstellungen magischer
Überzeugungen und Beschreibungen magischer Praktiken
enthält. Kanonisiert wurde die Sammlung als 4. Veda zu
Rigveda, Samaveda, Yajurveda erst im 3. vorchristlichen
Jahrhundert, allerdings stammen die Texte oder die Vorlagen
zu den Texten teilweise aus weit älteren Zeiten, bis zurück
an den Beginn des 2. vorchristlichen Jahrtausends. Besonders
interessant als einer der ältesten schriftlichen Belege
matriarchaler religiöser Vorstellungen ist die "Hymne an die
Erde", wie Kanda XII, Sukta 1, Mantras 1-63 der Atharvaveda
in den deutschen Übersetzungen genannt wird (ich zitiere
folgend nach Klaus Mylius, "Älteste Indische Dichtung und
Prosa"). In diesem Text gibt es deutliche Hinweise auf den
Bergbau, was nahelegt, dass er in der frühen indischen
Eisenzeit entstanden ist, zum Ende des 2. Jahrtausends vor
Christus. So heißt es im Mantra 35: "Was ich von dir, o
Erde, ausgrabe, das soll schnell zuheilen. Laß mich, o
Reinigende, nicht deine empfindliche Stelle, nicht dein Herz
durchbohren!"
Die im Hymnus angesprochene "Erde" ("pṛthivī" - die Weite,
das weite Land) ist weder eindeutig Schöpfung (natura
naturata) noch eindeutig Schöpfungsprinzip (natura
naturans). Angesprochen wird die Erde zunächst in ihrer
konkreten Gestalt und Materialität - versehen mit Attributen
eines nährenden, produktiven Prinzips. So wird sie im Mantra
17 explizit als "Mutter der Pflanzen" vorgestellt, an
anderer Stelle (Mantra 10) als die Menschen ernährende
"Mutter", noch expliziter als "Mutter Erde" ("pṛthivī mātā")
im abschließenden Mantra 63. Daneben wird als ähnlich
bedeutungsvoll für den Erhalt des Lebens nur noch die
"aufgehende Sonne" (Mantra 15) genannt, "Verbündeter" des
Menschen (Mantra 33). Prajāpati, der androgyne Schöpfergott
der Veden, soll die Erde für die Menschen freundlich machen
- doch seine Funktion bleibt untergeordnet, es ist die Erde,
"die alles im Schoße trägt" (Mantra 43). Prajāpati ist
lediglich Supplement der Erde (Mantra 61). Deren Gatte
Parjanya, zuständig für den Regen, wird gleichfalls nur
nebenbei gewürdigt (Mantras 12 und 42). Erwähnt wird auch
Agni, die Feuergottheit, allerdings nur in den vermutlich
nachträglich eingefügten Mantras 19 und 20. Alle
Götternamen, selbst der Vishnus (Mantra 10), erscheinen
lediglich enzyklopädisch eingestreut, ihre Träger sind der
"Mutter Erde" deutlich untergeordnet. Auch wenn es einmal,
in Mantra 7 heißt, sie werde von den "niemals schlafenden
Göttern" beschützt, ist die Erde aus sich schöpferisch,
selbst die Fähigkeit, das Schicksal zu beeinflussen, wird
ihr zugesprochen (besonders Mantras 40 und 47). Bei den
"früheren Völkern" seien Götter notwendig gewesen, um "die
Dämonen" zu überwältigen (Mantra 5). Jetzt aber steht ganz
offenkundig "pṛthivī mātā" im Zentrum für die Menschen. Sie
wird gar verglichen mit der Göttermutter Aditi in ihrer
Funktion für die Menschen (Mantra 61). Und dies kann
durchaus als Akt der Emanzipation von überkommenen
Göttervorstellungen angesehen werden. Ein paradiesisches
Zeitalter verheißt diese "Mutter Erde", der nun "Tribute"
gebracht werden (Mantra 62).
Hier begegnet uns eine Weltanschauung, die wenig zu tun hat
mit dem, was wir aus den Brahmanas und den Upanishaden
kennen. Es geht um Achtsamkeit, weniger um ermächtigende
Erkenntnis. Und es scheint die Idee auf, die Welt als das
Zuhandene sei zunächst einmal schlicht da, ewig und
verlässlich, Götter wie Prajāpati seien nur sekundäre Helfer
des Menschen, nicht notwendiger Weltgrund. Den Hinweis auf
eine wichtige Parallelstelle in der Rig Veda verdanken wir
Mircea Eliade, der in "Die Religionen und das Heilige" aus
X, 18 ("Lied zur Beerdigung") Mantra 10 stark verkürzend
zitiert: "Neige dich gegen die Erde, deine Mutter! Möge sie
dich retten vor dem Nichts!" (Eliade 1954, S. 21).
Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass unter den Verfassern
der Texte des Atharvaveda auch Frauen waren, während die
jüngeren Texte der Brahmanas und der Upanishaden nach
bisherigem Wissensstand ausschließlich von männlichen
Angehörigen der beiden obersten Kasten, der
Brahmanen/Priester-Gelehrten und der
Kshatriyas/Krieger-Politiker, mit jeweiligen spezifischen
Kasteninteressen, geschrieben wurden. Im Hymnus an die Erde
geht es um ein gelingendes praktisches Leben - nicht wie
sonst in der Atharvaveda um magische Rituale und Opfer, und
auch nicht um religiöse Spekulation wie in späteren Texten.
Einige Anklänge gibt es zum Aton-Hymnus Echnatons, der am
Sonnen-Gott Aton in verschiedenen Wendungen preist, dass er
Schöpfer und Erhalter zugleich sei: "Deine Strahlen säugen
alle Wiesen;/wenn du aufgehst, leben sie und wachsen um
deinetwillen./Du erschaffst die Jahreszeiten, um sich
entwickeln zu lassen, was alles du schaffst,/den Winter, sie
zu kühlen,/die Hitze, damit sie dich spüren." (Übersetzung
von Jan Assmann 1999, S. 221).
Textausgabe: Klaus Mylius (Hrsg.), Älteste Indische
Dichtung und Prosa, Wiesbaden: VMA-Verlag, 1981
Echnatons Sonnengott
Echnaton (18. Dynastie, Neues Reich, 2. Hälfte 14.
Jahrhundert vor Christus) wird im populären Verständnis als
Begründer des Monotheismus gefeiert. Wissenschaftlich ist
sowohl offen, ob er einen stringenden Monotheismus vertrat,
als auch, ob er seine monotheistischen Ansätze nicht von
anderen übernommen habe. Seine Verfolgung anderer Götter
betraf vor allem Amun, andere wurden eher ignoriert. Und
monotheistische Konzepte finden sich auch schon in der
Rigveda, etwa in 10.121 oder 10.129. Unbezweifelt allerdings
kommt Echnaton zu, als erster individuell greifbarer
Religionsstifter aufzutreten, auch wenn sein Vater Amenophis
III. bereits Vorarbeit geleistet hatte.
Der primär mit Aton verbundene Sonnenkult war ein wichtiges
Element der altägyptischen Religion. Bei Echnaton wurde er
beherrschend - und nach einer verbreiteten Auffassung ging
es Echnaton dabei auch darum, den parallelen Amun-Kult und
dessen politisch einflussreichen Apologeten zu entmachten.
Dem widerspricht allerdings der Ägyptologe Christian Bayer
in seiner Ausgabe der beiden Echnaton zugesprochenen
Sonnenhymnen von 2007 bei Reclam. Für Bayer war Amun zum
einen auch eng mit dem Sonnenkult verbunden, zum anderen
konnte die Amun-Priesterschaft als loyal gelten. Während
weite Teile der Forschung bei Echnaton primär eine
Neuformulierung des altägyptischen Henotheismus erkennen,
wurde nach Auffassung von Erik Hornung ("Der Eine und die
Vielen", 1971) von Echnaton mit der Verschiebung von Amun zu
Aton als oberstem Gott zunächst zwar "nur" eine Dominanz der
Lichtgottheiten eingeleitet, in der Zielsetzung sei es
Echnaton aber um die Ausschaltung aller anderer Götter neben
Aton gegangen, also um einen Monotheismus. Im strengen
Unterschied zu den später folgenden monotheistischen
Offenbarungsreligionen beruft Echnaton sich jedoch nicht auf
eine Intervention Atons, sondern macht sich selbst - im Stil
des tradierten Preisgesangs - im "Großen Hymnus an Aton" zum
(von seinem höchsten Beamten Eje) zitierten Verkünder und
Vermittler der umfassenden Macht Atons. Umfassend allerdings
primär für die Belange der Menschen, im Besonderen Ägyptens
- allerdings werden auch "Fremdländer" von ihm geschützt.
Darüber hinausgehende Horizonte werden nicht angesprochen,
auch nicht eine Verpflichtung Aton bzw. seiner Schöpfung
gegenüber, wie dies im thematisch durchaus vergleichbar
aufgebauten "Hymnus an die Erde" der Atharvaveda geschieht.
Psalm 104 im Alten Testament erscheint als eine
Umformulierung des Echnatonschen Hymnus, wobei als markantes
neues Element hier "die Sünder" erscheinen.
Echnatons Gottesvorstellung ist durch Klarheit und
Eindeutigkeit ausgezeichnet. In besonderer Weise eindeutig
ist sein Gott auch in der Geschlechtlichkeit: Er ist
geschlechtslos. Seine "Gattin" Ma'at verkörpert in den
Sonnenhymnen Wahrheit und Gerechtigkeit und bestätigt damit
seine Geschlechtslosigkeit. Echnatons Gott ist weder
strafend noch fordernd, sondern, durchaus "Mutter Erde"
vergleichbar, versorgend und gewährend. Allerdings auch
limitierend nach seinen Gesetzen, "Jeder einzelne erhält
seine Nahrung und ihre (der Menschen - H.Sch.) Lebenszeit
ist gezählt". Hornung sieht die besondere Leistung Echnatons
darin, "mythische durch rationale Aussage, mehrwertige Logik
durch zweiwertige" ersetzt zu haben (Hornung 1971, S. 241).
Aus moderner mythologiekritischer Sicht mag dies so
erscheinen, im Vergleich Echnaton-Atharvaveda wird diese
Auffassung jedoch problematisch. Echnatons Aton-Mythos
reduziert den schier unübersehbaren Vorrat ägyptischer
Mythologeme auf den Kern der göttlich-menschlichen
Interaktion und (einseitigen) Abhängigkeit. Dies steht quer
zur traditionellen Unterscheidung Mythos-Logos. Ich sehe
eher eine durch gesellschaftlich gegebene
Herrschaftsinteressen instrumentalisierte Mythologie ersetzt
durch eine erstaunlich pragmatische Sicht auf das Göttliche
als erhaltenden Naturzusammenhang. Leider wissen wir zu
wenig über die von Echnaton installierte Verwaltungspraxis
um beurteilen zu können, wie weit seine Reformen tatsächlich
an pragmatischer Lebensverbesserung interessiert waren -
oder nur daran, die eigene Macht absolut zu begründen und zu
legitimieren, wie die kritische Sicht auf Echnaton
behauptet.
Im etwas später abgefassten sogenannten "Kleinen Hymnus"
wird Aton ausdrücklich nicht nur als Schöpfer und Erhalter
der Welt, sondern auch als Schöpfer seiner selbst
angesprochen.
Sonnenhymnen waren eine eigene Textgattung innerhalb der
altägyptischen Lithurgie. Jan Assmann bietet alleine aus der
Amarnazeit 7 Beispiele, darunter die beiden Echnaton
zugesprochenen, der "Große" und der "Kleine Hymnus". In fast
allen von Assmann versammelten Hymnen, wie immer sie auf den
alten Sonnengott Re, auf Amun oder Aton oder in einem großen
Hymnus auf Ptah bezogen sind, erscheint Gott als Schöpfer
und Erhalter der Welt und konkret auch der beiden Länder
Ägyptens.
"Die arabische Wüste ist von zerbrochenen
Gottesvorstellungen umsäumt." So heißt es im "Buch Franza",
dem unvollendet gebliebenen Roman Ingeborg Bachmanns über
ein problematisches Geschwisterpaar, das auf einer
Ägyptenreise sein Heil sucht. Angesprochen wird bei Bachmann
auch wiederholt der Mythos von Isis und Osiris, des
göttlichen Geschwisterpaares, das gemeinsam Horus zeugte,
der als Schutzgott der Pharaonen galt. Echnaton war gewiss
einer der bedeutendsten "Zerbrecher" von
Gottesvorstellungen, auch wenn es nach seinem Tod zügig zu
einer Restauration der alten Pluralitäten und Komplexitäten
kam.
Quelle: Jan Assmann, Ägyptische Hymnen und Gebete,
Universitätsverlag Freiburg
Schweiz/Vandenhoeck&Rupprecht Göttingen, 1999
Lektüreempfehlung: Christian Bayer, Echnaton.
Sonnenhymnen, Reclam Verlag, 2007 Vertiefung: Erik Hornung, Der Eine und die
Vielen. Ägyptische Gottesvorstellungen, Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1971
Abbildung: Echnaton und Nofrete mit drei Töchtern unter
Atons Strahlen
Der alttestamentarische Gott
Gibt es überhaupt den einen alttestamentarischen Gott? Für
die einen ist er der strafende, für die anderen der
liebende, beschützende Gott. Das Christentum hat lange einem
liebenden Gott des Neuen Testaments einen grausamen Gott des
Alten Testaments gegenübergestellt. Heute dominiert die
Auffassung eines schon im Alten Testament auch wohlwollenden
Gottes.
Ohne Zweifel ist der auf den ersten Blick so klar umrissene
alttestamentarische Gott ein vielschichtiger Gott. Dies
liegt zum einen daran, dass die biblischen Quellen
unterschiedlicher Herkunft sind, von Autorschaft,
Entstehungszeit und auch Entstehungsregion her. Zum anderen
auch daran, dass dieser Gott ganz unterschiedlichen Personen
oder Personengruppen zugewandt ist in Handeln und Sprechen.
Davon zu trennen ist zum dritten die situative
Differenzierung.
Der Gott, der mit dem Satan über Hiob verhandelt ist ein
anderer als der, der sich in der großen Naturschöpfungsrede
an Hiob wendet. Mit dem Satan verhandelt ein erstaunlich
demütiger Gott, der den Satan keineswegs zurechtweist,
sondern sich von diesem zweimal zu einem Deal überreden
lässt. Dagegen trumpft der Gott der Schöpfungsrede Hiob
gegenüber gewaltig auf. Macht ihm klar, dass es mit der
Gottesebenbildlichkeit nicht so weit her sei, wie die
Menschenperspektive es gerne hätte. Hiob möge sich also
aller Spekulation um den Willen und die Pläne Gottes
enthalten. Doch dann erscheint ein gnädiger Gott, der Hiob
alle seine Verluste erstattet, da Hiob sich gehorsam zeigte.
Ein ganz eigener Gott ist der Gott des Propheten Daniel.
Daniel wurde aufgezogen am Hofe Nebukadnezars in
"Babylonischer Gefangenschaft". Sein Gott belegt den
Gegenüber Nebukadnezar mit Bildern, die zum einen an die
Messiaserwartung erinnern, zum anderen an das sumerische
Gottkönigtum. Ein Gott nebenbei des Vegetariertums (Dan
1,12). Auch an anderen Stellen des Alten Testamentes, die
sich mit Nebukadnezar befassen, steht Gott keineswegs auf
der Seite der Israeliten, vielmehr wird verschiedentlich
erklärt, Gott habe die Israeliten ihrer Verfehlungen wegen
in die Hände Nebukadnezars gegeben (z.B. Esr 5,12). Wobei
Verfehlungen vor allem dem letzten König Zedekia vorgeworfen
werden, unter anderem sei er eidbrüchig geworden gegenüber
Nebukadnezar (2. Chr 36,13). Dass der alttestamentarische
Gott wesentlich ein "Kriegsgott" gewesen sei, der auf Seiten
der Israeliten eingriff, gilt nur für die "Jahwe-Kriege" der
Frühzeit. Der strafende Gott dann ist verbunden mit einer
Zeit der Krise des israelischen Königstums.
Angesichts der rational aufzuklärenden Vielfältigkeit des
alttestamentarischen Gottesbildes erstaunt es nicht, dass
neben dem Judentum auch spätere Religionsgründungen und
religiöse Spekulationen wie die des Joachim von Fiore auf
ihm bauen konnten. Und es ermöglichte dem Christentum, mit
der Trinitätslehre gnostische Spekulationen und anhaltende
messianische Erwartungen zu integrieren in dieses
Gottesbild.
Gegenüber anderen historisch frühen Gottesbildern, die
gleichfalls monotheistisch zu verstehen sind (wie etwa
Echnatons Aton oder Zarathustras Ahura Mazda) ist das
alttestamentarische ausgezeichnet durch die Analogie zum
Menschenbild. Eine Analogie, die strikt zu unterscheiden ist
von der Menschenähnlichkeit der Götter etwa im griechischen
Pantheon. Sie überträgt nicht menschliche Eigenschaften auf
Gott - in der Bibel wird dies immer wieder zurückgewiesen -
sondern verpflichtet den Menschen in einer Weise moralisch,
die wir sonst erst wieder in der Platonschen Ideenlehre
finden. Eine Verpflichtung, deren implizite Überforderung
das Christentum abmildert in der Vermittlerfigur Jesu, der
Manichäismus radikalisiert in seiner Licht-Erlösungslehre.
Noch wenig beschäftigt hat sich die Deutungsfreude der
christlichen Theologie mit dem Umstand, dass die
Gottesebenbildlichkeit des Menschen in der Genesis von
Luther mit diesem Satz expliziert wird: "Vnd schuff sie ein
Menlin vnd Frewlin." Allerdings ist im hebräischen Original
nur allgemein von "adam" die Rede, "Mensch", desgleichen in
der Septuaginta mit "anthropon". Michelangelo trug dem
zumindest insofern Rechnung, als er in Gottes linkem Arm
bereits Eva zeigt, die Adam fixiert. Sein Gott bleibt
dennoch, zumindest auf den ersten Blick, der väterliche Herr
mit rauschendem Bart, androgyne Züge finden wir nicht.
Abbildung: Michelangelo Buonarotti, Deckenfresko der
Sixtinischen Kapelle, Erschaffung Adams, 1508
Mithras - Welterhalter im Zeichen des Stieres
Der Mithraskult wurde in besonderer Weise geadelt durch die
häufig zitierte, aber umstrittene Aussage des
Religionswissenschaftlers Ernest Renan in "Marc Aurèle ou la
fin du monde antique" von 1882: " On peut dire que, si le
christianisme eût été arrêté dans sa croissance par quelque
maladie mortelle, le monde eût été mithriaste." (Renan 1882,
S. 390)
Der aus einem Stein
zur Wintersonnenwende geborenen Gott prägte nach Auffassung
des kanadischen Kulturhistorikers Richard Foltz ausgehend
vom hattisch-mittanischen Einflussbereich Mitte des 2.
vorchristlichen Jahrtausends bis hinein ins 4.
nachchristliche Jahrhundert den europäischen Raum
maßgeblich. Für manche Forscher ist allerdings noch nicht
ausgemacht, dass es eine Kontinuität vom persischen zum
römischen Mithras gibt. Die römische Mithras-Verehrung fand
ein jähes Ende durch die Erhebung des Christentums zur
römischen Staatsreligion, womit seine Anhänger massiver
Verfolgung ausgesetzt wurden und seine Kultstätten zerstört
oder verschüttet.
"Mithra (Skt. Mitra) is one of the principal deities of the
early Indo-Iranian pantheon." (Foltz 2013, S. 19). Er
erscheint zuerst auf einem Mitanni-Sigel von 1450 vor
Christus als Bullentöter. In der Zeit um 1350 vor Christus
wird er gemeinsam mit drei anderen Gottheiten (Varuna,
Indra, Nasatya) in einem Vertrag zwischen Mitanni- und
Hethiter-Regime genannt. In der Achämenidenzeit scheint er
die leitende Gottheit gewesen zu sein. In der Partherzeit
wurde er mit Strahlenkranz als Sonnengott dargestellt. Als
Gottheit des römischen Heeres eroberte er mit phrygischer
Mütze nach der Zeitenwende ganz Europa. Im iranischen Raum
wurde sein Kult überlagert (ein Relief zur Amtseinführung
von Ardashir II. zeigt ihn untergeordnet neben Ahura Mazda)
und schließlich verdrängt durch zunächst Zoroastrismus (der
Stieropfer ausdrücklich ablehnte), dann Manichäismus.
Mithras war eng mit einem
Stierkult verbunden, der die jährliche Erneuerung der
Welt/der Sonnenkraft mit der Wintersonnenwende garantieren
sollte. Geboren wurde er in einer Felsengrotte, aus dem
Gestein. In diese Grotte schleppte er den
Weltenstier/Himmelsstier zum Opfer. Wie weit Mithras selbst
auch Tod und Auferstehung unterworfen war, ist umstritten.
Der Bezug von Mithras zur Sonne wurde in der Partherzeit, um
die Zeitenwende, besonders herausgestellt. Seine soziale
Funktion bestand darin, Verträge zu sichern. Vertragsbrecher
wurden von ihm bestraft. Allerdings existieren nur wenige
historische Quellen aus dem iranischen Raum, die
weitergehende Aussagen ermöglichen.
Die römischen Miträen, die ab dem 1. nachchristlichen
Jahrhundert datieren, wurden meist unterirdisch oder
zumindest eingesenkt in den Boden angelegt. Die Decken waren
mit Sternen ausgemalt. Die zentrale Szene der Stiertötung
auf dem Mithras-Relief war umrahmt mit Motiven, die Bezüge
zur Astronomie haben. Auf dem Relief von Osterburken sehen
wir die 12 Tierkreiszeichen in einem Bogen über der
Opferszene, mit der Waage in der Mitte. Mithras selbst wird
in der Römerzeit durchgängig ohne Strahlenkranz, mit
phrygischer Mütze dargestellt. Sol erscheint in der Regel
auf den flankierenden Szenen mit Mithras gemeinsam, auf dem
Sonnenwagen. Allerdings existieren auch zum römischen
Mithraskult wenig mehr als bildliche und architektonische
Zeugnisse. Dies förderte teilweise sehr kühne astronomische
Ausdeutungen der erhaltenen Altar-Reliefs, etwa von David
Ulansey, der Mithras als Beherrscher der Präzession der
Äquinoktien deutet.
Im römischen Reich - und vermutlich auch davor - war der
Mithraskult Männern vorbehalten. Von daher, aber auch durch
seine Verbindung mit Blutopfern und exklusiven
Initiationsriten, ist es eher unwahrscheinlich, dass er die
Bedeutung des Christentums hätte erreichen können, wie Renan
annimmt.
Lektüreempfehlung: Richard Foltz, Religions of Iran. From
Prehistory to the Present, London: Oneworld Publications,
2013, S. 19-31
Abbildungen: Geburt des Mithras aus dem Felsen, 2. Hälfte
2. nachchr. Jahrhundert, Mithräum Heidelberg.
Mithras-Altar aus Osterburken, Anfang 3. nachchr.
Jahrhundert, Badisches Landesmuseum Karlsruhe
Enūma eliš - Als oben der Himmel noch keinen Namen hatte
1875 wurden die ersten Tafeln des babylonischen
Schöpfungsberichtes (Enūma eliš - "Als oben" - nach dem
Textanfang) von Georg Smith in den Ruinen von Ninive
entdeckt. Das Werk erstreckt sich über sieben Tafeln. Wir
erfahren allerdings wenig über die Erschaffung der Welt,
mehr über die Erschaffung der Götter und die Kriege zwischen
den Göttern. Die erste Tafel deutet immerhin die Scheidung
von Wasser und Land an und die Erschaffung der Zeit,
ansonsten geht es schon hier hauptsächlich um die Götter.
Als erstes Götterpaar werden, ungeschaffen, Apsu - erster
Erzeuger - und Tiamat - erste Gebärerin - genannt, die mit
der Zeugung von Lachmu und Lachamu, dann Ansar und Kisar und
weitere zu Anu und Ea/Nudimmud bis hin zu Marduk die
Schöpfung initiieren. Es kommt zu ersten
Auseinandersetzungen zwischen Apsu, den das Gelärme seiner
Nachkommen belästigt und diesen. Dabei wird Apsu von Anu
getötet. Die Tafeln Zwei bis Vier schildern die Kämpfe
zwischen Tiamat auf der einen Seite, ihren göttlichen
Nachkommen auf der anderen. Dabei kommt es in der vierten
Tafel zu einem Entscheidungskampf zwischen Marduk als "der
Herr" und Tiamat, mit Sturmwinden und einer Meeresflut, die
sich vernichtend gegen Tiamat wenden. Am Ende der vierten
Tafel steht die Erschaffung von Erde und Himmel aus dem
Leichnam Tiamtus durch Marduk. Dann folgt auf der fünften
Tafel die Schaffung der Sterne/Sternbilder als Sitze der
Götter nach Beendigung der Kämpfe und die Gestaltung der
Erdoberfläche durch Marduk. Mit der Schöpfung des Menschen
wiederum durch Marduk befasst sich die sechste Tafel. Am
Ende der sechsten Tafel und auf der abschließenden siebten
Tafel wird die "neue Ordnung" zwischen Menschen- und
Götterwelt geschildert und beschworen.
Dass es anders als in der Genesis nicht um eine schrittweise
Schaffung der Grundelemente unserer Welt geht, um Himmel und
Erde, Wasser und Grund, Wind und Feuer, Tiere und Pflanzen,
wird bisweilen, auch im Blick auf die ägyptischen
Schöpfungsvorstellungen, damit begründet, dass die Götter
doch jeweils für bestimmte Bereiche zuständig seien und die
Schaffung der Götter zugleich mit die Schaffung ihrer
Herrschaftsbereiche bedeutet. Dies ist allerdings im
babylonischen Schöpfungsbericht nur ansatzweise zu erkennen,
insofern Lachmu und Lachamu mit Materie und Zeit verbunden
werden können, Ansar und Kisar mit Himmel und Erde.
Allerdings wird auf der vierten Tafel dann explizit die
Schaffung von Himmel und Erde durch Marduk verkündet.
Bemerkenswert an diesem Schöpfungsbericht ist auch, dass der
Schöpfer der Menschen (Marduk) zunächst einmal den
allerersten ungeschaffenen weiblichen Schöpfer der
(Götter-)Welt (Tiamat) vernichten muß, ehe er seine
Herrschaft aufrichtet, beginnend mit der Schöpfung einer
menschliches Leben begründenden Welt. Ähnliches kennen wir
aus der griechischen Götterwelt mit ihrer Kette von
Vatermorden - während das Christentum anhebt mit der
Ermordung des Sohnes. Hinter der Aufwertung Marduks steht
für die Forschung der Kampf mesopotamischer Städte um die
Vorherrschaft. Marduk ist Stadtgott von Babylon, das unter
Hammurāpi (1792-1750 v. Chr.) erheblich an Einfluss im
Zweistromland gewinnt. Und der Schöpfungsbericht ist
zweifellos in Babylon entstanden, vermutlich allerdings erst
unter Nebukadnezar I. (etwa 1125-1103 v. Chr.), denn erst ab
dieser Zeit wurde Marduk als König der Götter (šar ilī)
bezeichnet. Wesentliche Aufgabe dieses Schöpfungsberichtes -
und damit auch seines Gottes Marduk - ist es offenkundig,
Babylon als Zentrum der Welt zu legitimieren. Marduk steht
für eine deutlich partikular funktionalisierte
Gottesvorstellung. Er wird vorgestellt nicht nur als
Schöpfer der für die Menschheit relevanten Welt
(Überschneidungen mit dem Sintflutbericht sind nicht zu
verkennen), sondern auch der Sinnstrukturen des Himmels, als
Gott der im Zweistromland ab nun gesellschaftsleitenden
Astrologie-Astronomie.
Marduk ist Gott der die Menschen leitenden Sterne, der
"oben" dem Himmel seinen Namen gab.
Lektüreempfehlung: Thomas Kämmerer/Kai Metzler (Hrsg.),
Das babylonische Weltschöpfungsepos Enūma elîš, Münster:
Ugarit-Verlag, 2012
Brahman-Atman: Tattvam asi
Mircea Eliade unterscheidet in "Geschichte der religiösen
Ideen", Band 1, Kapitel 75, vier Typen von Kosmogonien, die
sich in den Veden finden: Befruchtung der Urgewässer,
opferhafte Zerstückelung eines Ur-Riesen, Schöpfung aus
einer das Nichts umfassenden All-Einheit, Scheidung von
Himmel und Erde. Elemente dieser Konzeptionen, abgesehen von
der Zerstückelung eines Ur-Riesen, finden wir auch in der
Schöpfungsgeschichte des Alten Testamentes, der Genesis
wieder. All diese Vorstellungen hintergeht die in einigen
Upanishaden ab etwa 900 vor Christus entwickelte Konzeption
des Brahman, der fortgeschrittenen Gestalt des "tad ekam"
("Das Eine", All-Eines") aus dem Rigveda 10.129 (Nāsadīya
Sūkta, "Schöpfungshymne"), als identisch mit dem Atman, der
Weltseele, als zugleich Ursubstanz und Schöpfung und
Erhaltungsprinzip. Wobei das Atman als Individualseele in
uns meditierend erfahrbar ist und daraus weiters die
Identität von Atman und Brahman.
Bereits die Chāndogya Upanishad, eine der ältesten
Upanischaden, niedergeschrieben vermutlich im 7.
Jahrhundert, in der es zunächst um den kultischen Gesang
geht, dann in langen Ausführungen um die Bestimmungen von
Brahman und Atman, entwickelt in III 14 die Identität von
Brahman und Atman. "Brahman ist alles, was es hier gibt", er
sei auch "mein ātman tief in dem Herzensinnern drin",
"kleiner als die Feldfrucht-Körner" aber doch auch "breiter
als die Erde, weiter als der Raum, der an das Firmament sie
bindet" (III 14,1-3). "So ruht mein ātman tief in dem
Herzensinnern drin, als brahman allen Seins" (III 14,4). Im
"tattvam asi" des 6. Kapitels ("shashtah adhyayah") wird mit
den gleichen Worten nur noch vom Atman gesprochen, gipfelnd
in der berühmten Formel "sa atma tattvam asi" - "dieses
Atman/dieses Selbst/diese Essenz bist Du" (VI 15,3 und VI
16,3). In der vermutlich noch früheren Brhadāranyaka
Upanishad wird im 7. Brahmana die Identität von Brahman und
Atman nicht aus dem Schöpfungsakt, sondern aus dem
Schöpfungserhalt entwickelt. Hier ist der Brahman, von dem
nur anonym gesprochen wird, der, "dessen Leib die Erde ist
und der diese von innen heraus überwacht" (III 7,3), und er
ist identisch mit dem "ātman, dem inneren Überwacher, dem
Unsterblichen" (III 7,3). Und er, der nur in der Einleitung
direkt Brahman genannt wird, ist das Atman, das unsterbliche
Selbst ebenso der Schöpfung, von der Erde bis zu allen
Geschöpfen (III 7,3-15), wie des Menschen (III 7,16-23).
Anders als in den Rigvedischen Vorstellungen des "tad ekam"
ist Brahman in diesen frühen Upanishaden-Texten nicht
persönlich gefasst und nicht als abgetrennt von seiner
Schöpfung existierend gedacht.
Grundsätzlich ist festzuhalten: Die Upanishaden entwickeln
keine einheitliche Konzeption von Brahman und Atman. In der
westlichen Rezeption, geprägt durch den Deutschen
Idealismus, lassen sich drei Deutungsstränge unterscheiden:
Brahman als der ursprüngliche Geist, der auf dem Weg über
das Atman wieder zu sich selbst komme. Brahman als
Weltseele, Atman als Individualseele. Brahman als
Schöpfungsprinzip, Atman als Erkenntnisprinzip. Für unseren
Kontext ist die Vorstellung einer Identität von menschlichem
und göttlichem Wesenskern bedeutsam, die verwandt, aber
keineswegs identisch ist mit der alttestamentarischen
Vorstellung einer Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Die
Gottesebenbildlichkeit steht in einem seltsamen
Zirkelschluss. Gott ist mit menschlichen Zügen gestaltet und
der Mensch sei nach seinem Bilde geschaffen. Konkretisiert
wird alttestamentarisch die Ebenbildlichkeit
erstaunlicherweise in der Geschlechtlichkeit, "als Mann und
Frau erschuf Er sie", und im Auftrag, die Erde als Dominium
zu übernehmen bzw. den "Paradiesgarten" im Raum des heutigen
Irak zu pflegen und zu bewachen. Gegenüber dieser eher
politisch-gesellschaftlich zu lesende Konzeption hat die
Brahman-Atman-Identität eine philosophische Bedeutsamkeit
als bewusstseinstheoretisch-ontologischer Entwurf.
Textausgabe: Walter Slaje (Hrsg.), Upanischaden. Arkanum
des Veda, Ffm/Leipzig: Insel Verlag, 2009
Hieros Gamos - Die Heilige Hochzeit
Auf der ersten Tafel des babylonischen Schöpfungsberichtes
"Enūma eliš" wird die Vermischung der beiden Wasser, des
Süßwassers der Gottheit Apsu (männlich gezeichnet, "Säer")
und des Salzwassers der Gottheit Tiamat (weiblich
gezeichnet, "Gebärerin"), als Beginn der Schöpfung genannt.
Apsu und Tiamat gehen der Schöpfung voraus, sie können auch
naturphilosophisch als erste Materien aufgefasst werden. In
der Forschung wird diese Verbindung bisweilen als erstes
Beispiel eines Hieros Gamos angesehen. Der Begriff stammt
allerdings aus Griechenland, auf Belegen aus dem 7.
Jahrhundert vor Christus wurde die theogamische Verbindung
von Hera mit Zeus so benannt, die an verschiedenen Orten,
markant etwa in Athen und auf Samos, rituell begangen wurde.
James Georg Frazer ("The Golden Bough", 1890, XI. und XII.
Kapitel) übertrug die Benennung auf alle sexuellen
Verbindungen im rituellen Kontext, auch wo es um die
Verbindungen von Göttern und Menschen geht, und deutete
diese als Erneuerung von Fruchtbarkeit, primär der
vegetativ-landwirtschaftlichen. Erst seit den 1960er Jahren
wird die durchgängige und unspezifische Deutung dieser
Kulthandlungen als Fruchtbarkeitsritual in Frage gestellt.
Im Bedeutungskern von "Hieros Gamos" steht im heutigen
populären Gebrauch die Verbindung der Gottheiten von Himmel
und Erde, nicht zuletzt transportiert durch die Kunst, etwa
Eichendorffs "Mondnacht" ("Es war, als hätt' der Himmel/Die
Erde still geküsst"), christliche Predigttexte oder die
Esoterik. In den historischen Beispielen sieht die
geschlechtliche Zuordnung in der Regel den Himmel als
männlich, die Erde als weiblich, etwa bei der Verbindung von
Gaia als Erdgöttin und erster Gottheit (geboren aus dem
Wasser) mit dem Himmelsgott Uranos, ihrem Sohn, in
Griechenland. Auch bei Zeus und Hera kann dies so verstanden
werden. Hans Oppermann sieht 1924 den Zeus Panamaros und die
Hera Teleia als "das alte kleinasiatische Paar der Götter
des Himmels und der Erde". Allerdings gibt es auch
gegenteilige Beispiele, so aus Ägypten die Verbindung der
weiblichen Himmelsgöttin Nut (ihr Lachen war der Donner, ihr
Weinen der Regen) mit dem männlichen Erdgott Geb.
Aphrodite Avagianou hat in ihrer Dissertation "Sacred
Marriage in the Rituals of Greek Religion" 1990/91
anschaulich herausgearbeitet, wie inkonsistent die
Befundlage und wie breit aufgefächert in der Forschung die
Deutungen zur "Heiligen Hochzeit" sind. Ich beschränke mich
daher auf die genauere Darstellung der Befunde zu Samos.
Samos war ein Zentrum des Hera-Kultes, neben Argos. Das
erste Hereion auf Samos wurde im 8. Jahrhundert vor Christus
erbaut. Zum Ritual der Hochzeit von Hera und Zeus auf Samos
gibt es einen ersten Beleg aus dem Jahr 346 vor Christus.
Darin wird beschrieben, wie die Hera-Statue in Brautkleider
gehüllt aus dem Tempel an den Fluß Imbrasos getragen wurde
zum Brautbad. Belege zum weiteren Fortgang des Rituals
exisiteren nicht, lediglich Reliefs aus Ton und Holz aus dem
7. vorchristlichen Jahrhundert, die Hera und Zeus in enger
Verbindung zeigen und von Avagianou gedeutet werden als
"representations of the consummation of hieros gamos on
Samos" (Avangianou 1991, S. 56). Die kleinasiatische
Festlandnähe brachte schon im 6. vorchristlichen Jahrhundert
enge Kontakte zum Kybele-Kult. Kybele wurde in Griechenland
mit Rhea gleichgesetzt, aber in anderen Mythen auch als
Tochter des Zeus (dessen Mutter sie als Rhea wäre) gesehen -
dokumentiert zuerst bei Hipponax aus Ephesos um 540 vor
Christus.
Augustinus in "De civitate dei" zu Beginn des 5.
Jahrhunderts über Marcus Terentius Varros Ableitung der
Götter aus zwei Teilen der Schöpfung, Himmel und Erde: "Eine
Art Wahrscheinlichkeitsschluss führt ihn (...) zur Annahme,
der Himmel sei das tätige, die Erde das leidende Prinzip,
und so teilt er jenem die männliche, dieser die weibliche
Rolle zu, beachtet aber nicht, daß vielmehr der hier tätig
ist, der Himmel und Erde geschaffen hat." (De cititate dei -
VII, 28)
Forschungsüberblick: Aphrodite Avagianou, Sacred Marriage
in the Rituals of Greek Religion, Bern u.a.: Peter
Lang,1991
Abbildung: Zeus und Hera, Relief aus dem Heraion II,
Samos, ca. 610 v. Chr.
Ahura Mazda und die Geburt des Bösen aus dem Geist der
Lüge
In der Götterwelt des altpersischen Reiches gab es, in
historisch noch nicht aufgeklärter Verflechtung mit Mithras,
die höchste Gottheit Ahura Mazda/Ohrmazd/Hurmuz und seine
Kreationen Angra Mainyu sowie Spenta Mainyu, zerstörerischer
versus aufbauender Geist. In welchen Kontexten Angra Mainyu,
das negative Prinzip, zu Ahriman/Ahreman als Gegenspieler
Ahura Mazdas wurde, lässt sich den Quellen nur mit hohen
Ungewissheiten entnehmen. Ebensowenig, wie weit Ahreman als
gleichberechtigte, gleichmächtige Gottheit neben Ahura Mazda
ausgestaltet wurde. In der Forschung gilt das mit
Zarathustras Name verbundene System überwiegend als
dualistischer Entwurf neben dem alttestamentarischen
Monismus. Neben einem Monismus, der auch den Satan kennt und
diesen ganz ähnlich zeichnet, wie Ahreman gezeichnet wird,
als Betrüger, der die Menschen verführt.
Zarathustra wurde nach verbreiteter Auffassung 618 vor
Christus geboren. Einige Quellen sehen ihn allerdings
wesentlich älter. Der Linguist Helmut Humbach schreibt 1994
in der Einführung zu "The Heritage of Zarathushtra":
"According to Xanthos (...), Spitama Zarathushtra (...)
lived 600 years before Xerxes' crossing of the Hellespond
(480+600=1080 B.C.). This is in approximate agreement with
the linguistic evidence." (Humbach 1994, S. 11). Der
Religionswissenschaftler Michael Strausberg dagegen vertritt
in "Zarathustra und seine Religion" 2005 die Auffassung, man
müsse bei Xanthos 6000 v.Chr. statt 600 v.Chr. lesen und
schreibt weiter: "Selbst wenn man 600 statt 6000 Jahre
liest, weist das genannte Datum einerseits über den Zeitraum
historisch verlässlicher Information hinaus und klingt
andererseits sehr nach Weltalterkonstrukten" (Strausberg
2018, S. 22).
Wir können offenkundig nichts Gewisses zur Lebenszeit
Zarathustras sagen, was primär auf die unsichere Quellenlage
und die weit zurückreichenden Traditionslinien der
altpersischen Religiosität zurückzuführen ist. Eine der
zahlreichen Legenden zum Leben Zarathustras berichtet, er
habe bei seiner Geburt gelacht - was zu einem geläufigen
Motiv der Zarathustra-Ikonographie wurde und sich auch bei
Friedrich Nietzsche in "Also sprach Zarathustra" findet.
Ausgegangen wird davon, dass Zarathustra als Erwachsener
zunächst Priester des iranischen Gottes Ahura Mazda, des
"Mazdaismus" war. Er trat jedoch bald mit einer
eigenständigen Lehre auf, die von der Orthodoxie angegriffen
wurde. Er starb nach bisherigem Überlieferungsstand eines
gewaltsamen Todes.
Die genaueste Auskunft zur Lehre Zarathustras finden wir in
den fünf "Gathas", liturgischen Texten, deren überlieferte
Form erst im 7. Jahrhundert niedergeschrieben wurde,
die inhaltlich und im Sprachstand allerdings überwiegend auf
auf das vierte Jahrhundert vor Christus und weiter zurück
verweisen: Ahunavaitī, Ushtavaitī, Spenta-mainyu,
Vohukhshathra und Vahishtoishti Gatha. Die Gathas bestehen
aus einzelnen Yasnas (Y.), "Ritualen", die wiederum in Hâts
(Abschnitte, Kapitel) gegliedert sind. Auch die ganze
Sammlung liturgischer Texte, in welcher die Gathas
überliefert sind, wird als "Yasna" bezeichnet oder als
"Avesta", wovon die Sprache, in der diese Texte (in
zumindest zwei historisch unterschiedenen Sprachstufen)
verfasst sind, ihren Namen bekam.
Die Bilderwelt der Gathas ist stark durch die Viehzucht
geprägt, die (zu Zarathustra oder durch ihn) Sprechenden
sind häufig Hirten, die sich sorgen um die Zerstörung und
den Diebstahl ihrer Herden durch Menschen, welche vom Bösen
angeleitet werden. Im Zentrum steht die durchaus als
"heilig" zu verstehende Kuh, die sich auch direkt an
Zarathustra wendet. In der Forschung wird noch gestritten
darüber, ob wir hier und in anderen Parallelen zum
Hinduismus einen Hinweis auf eine gemeinsame indoeuropäische
Urreligion sehen können, die dem Hinduismus ebenso
vorausging wie dem Zoroasthrismus. Oder ob der Zoroastrismus
eher als eine spätere Abspaltung vom Hinduismus oder doch
zumindest als von diesem stark beeinflusst aufzufassen sei.
Der Name Zarathustras erscheint in den Gathas häufig, an
zwei Stelle in der zweiten Gatha (Y. 43,8 und Y. 43,16)
spricht er gar in der ersten Person von sich, im
Zwiegespräch mit Ahura Mazda, an weiteren Stellen spricht er
indirekt von sich, nämlich in der dritten Gatha (Y. 49,12
und Y. 50,6) und in der vierten Gatha (Y. 51,11). In der
ersten Gatha wird Zarathustra in dritter Person genannt (Y.
28,6, Y. 29,8, Y. 33,14), ebenso in der zweiten Gatha (Y.
46,13 und 46,19), in der vierten Gatha (Y. 51,12) und in der
fünften (Y. 53,1ff - hier geht es um die Familie
Zarathustras und die Nachfolge). Dazu erscheint sein Name in
der zweiten Person in der zweiten Gatha (Y. 46,14). Wobei es
sich an fast allen Stellen ohne Ich-Bezug auch um
stilistisch geformte Selbstanreden handeln könnte. In der
religiösen Rezeption wurden die Gathas in der Regel als
Texte angesehen, die auf Zarathustra selbst zurückgehen. Die
Forschung schließt sich dem nicht an.
Zentraler
Ansprechpartner in den Gathas ist Ahura Mazda ("der Weise
Meister" oder "Meister Weisheit" - Strausberg 2018, S. 8).
Ahura Mazda bündelt sechs Kräfte, Amesa Spentas,
Unsterbliche Heilige/Weise. Die beiden wichtigsten, in den
Gathas auch am häufigsten genannten sind Wahrhaftigkeit und
Gutes Denken. Diesen folgen in der Bedeutung Herrschaft und
Fügsamkeit. Das geringste Gewicht wird in den Gathas
Heilsein und Nichtsterben zugeteilt. In der Regel werden
diese Kräfte/Heilige/Weise auch paarweise genannt. (Vgl.
Erwin Wolff "Die Zeitfolge der Gathas", in: Herman Lommel,
Die Gathas des Zarathustra, 1971, S. 190.)
In den Gathas finden wir keinen expliziten Gegenspieler
Ahura Mazdas, allerdings die beiden "Geister" ("Mainyus"),
den "heiligen" ("spenta") und den "betrügerischen" (der hier
noch nicht "angra", "zerstörerisch", genannt wird) als
anfängliche Schöpfungen Ahura Mazdas. In der Yasna 30 und
der Yasna 47 wird deren Zwillingscharakter genauer
ausgeführt, auch mit den Kategorien "gut" und "böse" (Y.
30,3). Der betrügerische Geist wird in den Gathas gestaltet
als ein Prinzip, das mit Ahura Mazda um den Vorrang über die
Menschenseelen streitet, ihm allerdings deutlich
untergeordnet ist. Ahura Mazda wird nicht, wie wir dies beim
biblischen Gott finden, um Beistand dem "Bösen" gegenüber
gebeten, sondern es wird ihm versichert, dass die
Sprechenden/Anhänger seiner Religion sich gemeinsam mit ihm
dem üblen Geist widersetzen (Y. 35,3ff). Das ist ein äußerst
bemerkenswerter Zug dieses Gottes: Dass die Menschen
gleichsam seine Verbündeten sind, nicht in erster Linie
Bittsteller und auf Gedeih und Verderb ausgelieferte
Abhängige. Wobei als der engste Verbündete Zarathustra
erscheint (Y. 43,8). Ahura Mazda lebt und gedeiht durch
seine Verehrung (Y. 36,5). Mehr noch: Ahura Mazda ist (auch)
ein "werdender Gott": "By that spirit by which one upholds
best thought you still grow, O Mazda Ahura" (Y. 31,7).
Der betrügerische Geist wird als "betrügerischer Einer"
immer wieder Ahura Mazda selbst als "wahrhaftigem Einem"
gegenübergestellt. Wobei mit beiden Ausdrücken auch
menschliche Individuen gemeint sein können (zumindest den
mir zugänglichen Übersetzungen zufolge) - dies dann auch im
Plural (z.B. Y. 40,3 und Y. 31,20). Bemerkenswert am
Gegenspieler ist, dass er nicht direkt an der Schöpfung
beteiligt ist (vgl. Y. 45,7). Spätere mittelpersische Texte
machen explizit deutlich, dass Ahreman und seine Abkömmlinge
keine materielle Existenz haben, vielmehr darauf angewiesen
sind, auf die materielle Welt indirekt einzuwirken über
Menschen, die in ihren Bann geraten. Die Menschen selbst
gehören zwei von Ahura Mazda regierten Welten an, der
materiellen und der geistigen - die einander ergänzen (Y.
28,2; Y. 35,3; Y. 41,6). Die Gathas liefern nicht die
geringste Grundlage für eine Unterscheidung nach
materiell=böse, geistig=gut, wie sie dann der Manichaismus
entwickelte. Der Weg vom betrügerischen Geist zu Ahreman
liegt im geschichtlichen Dunkel.
Wie es scheint, ist die religiöse Postulation des Bösen
gebunden an die Ausformung monotheistischer Glaubenssysteme.
Lediglich bei Echnaton finden wir darauf keine Hinweise.
Judentum und Zoroastrismus jedoch haben gemeinsam, dass mit
der Formierung eines einzigen Gottes auch "das Böse" Gestalt
gewinnt - dann allerdings erst in späteren Entwicklungen zu
einem personifizierten umfassenden Bösen wird. Rudolf
Steiner hat dies als erster wahrgenommen und in seiner
Anthroposophie Anleihen bei beiden gemacht, indem er sowohl
Luzifer als auch Ahriman aufnahm in seine Lehre - in
freilich eigenwilliger Gestaltung.
Ein ganz wesentlicher Unterschied zwischen dem Bösen in der
Bibel und dem Bösen bei Zarathustra liegt darin, dass das
biblische Böse, der biblische Versucher die Menschheit als
Ganzes verführt und damit die Erbschuld begründet. Bei
Zarathustra gerät jeder persönlich in die Versuchung, lädt
jeder individuell Schuld auf sich - oder eben nicht. Und
jeder individuell kann mit Unterstützung durch die guten
Kräfte Ahura Mazdas durch eigene Entscheidung seine Schuld
korrigieren, sich zum Guten wenden. Dazu braucht es keinen
Messias, keinen Erlöser. Insofern ist die These von Foltz im
Vorwort zu "Religions of Iran" mit einem Fragezeichen zu
versehen: "Monotheisms are notoriously exclusive and
intolerant." (Foltz 2013, S. XIII). In den Gathas gibt es
dazu keine Belege. Dagegen zahlreiche Stellen, die Toleranz,
Offenheit und Gleichberechtigung aller Menschen (unabhängig
von der Herkunft, unabhängig vom Geschlecht - s. Y. 39,2)
propagieren.
Lektüreempfehlung: Michael Strausberg, Zarathustra und
seine Religion, 2018 (dritte, durchgesehene Auflage;
zuerst 2005)
Ausgreifende Lektüre: Gustav Roskoff, Die Geschichte des
Teufels, 1987 (zuerst 1869)
Abbildung: Ahura Mazda, Persepolis, 5. Jahrhundert vor
Christus.
Buddha
Siddhartha Gautama/Gotama (nach der "korrigierten langen
Chronologie" 563-483, nach anderen Berechnungen 450-370 v.
Chr.) wurde als Sohn des Fürsten Shudhodana ("der reinen
Reis züchtet") aus der Sippe der Shakya im heutigen Nepal
geboren, in Lumbini bei Kapilavastu. Der Beiname Buddha
bedeutet "der Erwachte" und wurde ihm als erstem gegeben,
dann aber auch auf eine Reihe von Vorgängern und Nachfolgern
übertragen. Ein weiterer Beiname war Shakyamuni - der Weise
aus dem Shakya-Geschlecht. Gautamas Vater war im heutigen
Sinne vermutlich eher ein wohlhabender Gutsherr und
Gouverneur, nicht, wie die Überlieferung möchte, ein
prächtiger "König". Sein Reich mit Kapilavastu als
Hauptstadt war von Begehrlichkeiten mächtiger Nachbarn
bedroht. Vor allem von der südwestlich gelegenen
Koshala-Monarchie, der die Shakya tributpflichtig waren.
Koshala gehörte noch zum Einflußbereich des Brahmanentums,
während das kleine Reisbauern-Reich der Shakya religiös von
Naturverehrung und asketischen Wandermönchen geprägt war.
Die Ehe der Eltern Gautamas blieb 20 Jahre kinderlos, bis
der späte Sohn geboren wurde. Seine Mutter starb wenige Tage
nach der Geburt, ihre Schwester trat an ihre Stelle. Im
Alter von 16 Jahren wurde Gautama mit einer Cousine
verheiratet. Mit 29 bekam er einen Sohn, den er Rahula
nannte, was er später einmal als "Fessel" explizierte. Im
gleichen Jahr unternahm er die berühmten Ausfahrten, bei
denen ihm zunächst Alter, Krankheit und Tod begegneten, was
ihn, der bislang der Legende zufolge abgeschirmt von den
Unbilden des Lebens aufgewachsen war, tief erschütterte. Die
vierte Ausfahrt führte ihn mit einem asketischen Wandermönch
zusammen, dessen Leben er als vorbildlich ansah, um Alter,
Krankheit und Tod nicht mehr fürchten zu müssen. Woraufhin
er die Familie verließ, um ein Leben als Wanderprediger zu
führen, was im damaligen Indien ein durchaus verbreitetes
Verhalten gewesen zu sein scheint. Im Alter von etwa 35
Jahren erreichte er der Überlieferung zufolge unter einem
Pappelfeigenbaum/Bodhibaum sein Erwachen. Darauf erhielt er
den von ihm selbst auch beanspruchten Beinamen "Buddha"
("der Erwachte") und in späteren Texten "Siddhartha" ("der
das Ziel erreicht hat").
Kern seiner Lehre ist die Arbeit an der Überwindung des
Lebenswillens, den er als Ursache allen Werdens
(einschließlich der Wiedergeburt) und damit auch allen
Leidens ansah. Damit verbunden ist in eigentümlicher
Gegenspannung zu unübersehbar eskapistischen Zügen im Leben
und in der Lehre des Buddha auch die Zuwendung zu weltlichem
Leid, um dieses zu mildern.
Auf den ersten Blick und besonders im Blick auf die
westliche Rezeption erscheint der Buddhismus als Religion
einer saturierten Gesellschaftsschicht, die schon
ausreichend mit materiellen Güter versehen ist und nun auch
noch die Befreiung von Alter, Krankheit und Tod begehrt.
Seine erste Predigt vor den Anhängern nach dem Erwachen
begann der Überlieferung zufolge mit den Worten "Öffnet euer
Ohr, ihr Mönche: Die Erlösung vom Tode ist gefunden." Doch
er erreichte als Wanderprediger auch die einfachen Leute, so
die Überzeugung von Axel Michaels: "Er sorgte sich um das
'Seelenheil' aller, weitgehend unabhängig von ihrem sozialen
Stand, ihrer Herkunft, ihren rituellen Verpflichtungen und
ihren ökonomischen Möglichkeiten." (Michaels 2011, S. 25).
"Seine Lehren erschütterten den jahrhundertealten vedischen
Opferritualismus der Brahmanen" (ebd.). Buddha hat sich nach
der Überlieferung selbst nie als Gott gesehen, nicht einmal
als Guru, sondern lediglich als Überbringer einer Lehre.
Dass er indes zu einem Gott gemacht wurde durch seine
Anhänger verweist auf ein Desiderat, das Desiderat eines
Gottes für alle, nachdem die Brahmanen-Kaste in Indien das
Numinose zu einer spekulativen Entität gemacht hatte,
zugänglich nur Eingeweihten.
Lektüreempfehlung:
Axel Michaels, Buddha. Leben, Lehre, Legende, München: C.
H. Beck, 2011
Jesus Christus
Die Christus-Vorstellung ist eine der erstaunlichsten
Konzeptionen, die kulturgeschichtlich zur gesellschaftlichen
Verhaltensregulation entwickelt wurden. Ihr Kern besteht aus
drei (schon im Alten Testament zu findenden) Elementen, die
ich benennen möchte als "Nullstellung", "Liebe" und
"Utopie", analog zur Trias "Glaube, Liebe, Hoffnung". Die
"Nullstellung" (keineswegs zu verwechseln mit einem
modernistischen "Reset") impliziert die Möglichkeit eines
radikalen Neuanfangs, der selbst die "Erbsünde" aufzuheben
vermag in einem Glaubensakt, der von individueller wie
kollektiver Vergangenheit absieht. Dieser Glaubensakt bedarf
einer Verstetigung durch die Bindung an ein Prinzip, das
alles Gegenwärtige zunächst einmal vorbehaltlos bejaht und
jede Fortsetzung vergangener Auseinandersetzungen und
Konkurrenzen aussetzt in einem permanenten Akt von Selbst-
und Fremdbejahung ("liebe deinen Nächsten wie dich selbst").
Und schließlich wird jedem vergleichenden Zweifel begegnet
durch die Blickwendung nach vorne, sei es in diesseitiger
Erfüllung in der Nachfolge Christi, sei es durch die
Erwartung von Wiederkunft, Gericht und Auferstehung.
Hier soll, im Anschluss an zuerst von Friedrich
Schleiermacher vorgetragene Auffassungen, das in Jesus
Christus gefasste Konzept abseits aller Trinitätsdiskurse
gelesen werden als ein für sich stehendes Gottesbild. Die
Untersuchung gilt dabei vor allem vier Aspekten des Jesus
Christus: Verletzlichkeit, Humanismus, Leiblichkeit und
Individualismus. Diese Aspekte sind eng korreliert, insofern
natürlich die Leiblichkeit auch Verletzlichkeit mit sich
bringt und dieses Gottesbild in besonderer Weise - über den
Leib als menschlichen - mit den Anliegen der Menschheit und
den Grundlegungen des Humanismus als Weltanschauung, die auf
Individualität basiert, verbindet.
Die für mich erstaunlichste Leistung des Christentums ist
es, abzurücken von dem vorgängigen alttestamentarischen,
substantiell nicht affizierbaren Gott hin zu einem Gott, der
dem Zyklus von Werden und Vergehen unterworfen ist, der
verletzlich ist, der hingerichtet werden kann und leiden.
Auch wenn dies nur ein Aspekt ist, der im theologischen
Gesamtgebäude aufgehoben wird in der Trinität und in der
Auferstehung scheinbar negiert: Hier zeigt sich ein Ansatz,
der für die Erfolgsgeschichte des Christentums in der
Neuzeit von entscheidender Bedeutung wurde und sein
Überleben auch unter dem Ansturm der Theodizee-Frage
sicherte, die seit dem Erdbeben von Lissabon mit dem
Einsturz vollbesetzter Kirchen an Allerheiligen 1755 nicht
mehr verstummt ist. Ein Gott, der selbst leidet, verliert
seine Glaubwürdigkeit nicht, wenn er Leiden Unschuldiger
zulässt.
Der evangelische Theologe Ingo Baldermann hat sich dem Thema
des "leidenden Gottes" zeitlebens gewidmet. Er vertritt gar
die Auffassung, dass auch das Alte Testament in der
hebräischen Urform keinen allmächtigen, dem Leiden
enthobenen Gott kenne. Darüber mögen die Theologen sich
streiten. Fakt ist, dass das Bild vom allmächtigen
Vater-Gott zu einem der wirkmächtigsten in der
Kulturgeschichte wurde und dass es mit dem Alten Testament
verbunden wird, während der leidende Gott dem Neuen
Testament zugeordnet wird.
Der verletzliche, leidensfähige Gott ist zum Mitleiden
befähigt. Und auch wenn Bertrand Russell sich in „Warum ich
kein Christ bin“ viel Mühe gibt nachzuweisen, wie grausam
die Jesusfigur in ihren Handlungen und Wunderwirkungen oft
letztlich auftritt: Jesus ist an menschlichen Schicksalen
und deren Verbesserung interessiert, er ist Humanist in
einem einerseits karitativen, andererseits den Rest der
Schöpfung dem Humanum unterordnenden Sinn. Und viele der
Grausamkeiten, die Russell aufführt, wenden sich gegen
Tiere, die in der Tat im Neuen Testament nur als Nutztiere
von Belang sind und schon einmal dafür herhalten müssen,
dass die Teufel in sie fahren und sie elendiglich umkommen.
Dass der Mensch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sei, ist
zwar eine alttestamentarische Formel, ihr Gehalt wird im
Neuen Testament jedoch erst greifbar in seinen inhaltlichen
Konsequenzen.
Die christliche Welt ist keineswegs, wie gerne in aktuellen
Diskursen behauptet wird, eine der Achtsamkeit auch
gegenüber den nicht-menschlichen Mitgeschöpfen. Das war bei
Jesus nicht so und nicht in den ersten urchristlichen
Gemeinden. Und das war auch nicht bei Franz von Assisi so,
der heute von manchen als "Gottes grüner Krieger" (Franz
Alt) gefeiert wird. Das soziale Engagement ist christliches
Erbgut, nicht das ökologische. "Was ihr dem geringsten
meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan" (Matthäus
25,40) - so lautet eine der zentralen christlichen
Botschaften. Und sie meint nicht "Bruder Sonne" und
"Schwester Mond" (gemäß dem Geschlecht im Italienischen),
von denen Franz von Assisi in seinem Sonnengesang spricht.
Zur "Leiblichkeit" der christlichen Religion genügt schon
der Verweis auf Lukas 22:19: "Und er nahm das Brot, dankte
und brach's und gab's ihnen und sprach: Das ist mein Leib,
der für euch gegeben wird; das tut zu meinem Gedächtnis."
Damit knüpft das Christentum an die Tradition kultischer
Menschenopfer an, die bereits im Mithras-Kult zeitgenössisch
in die Überlagerung von Stieropfer und Mithrasopfer
sublimiert war. Auch können wir hinweisen auf die
"Auferstehung des Fleisches" als Glaubensinhalt des
Christentums. Eine der eigenartigsten Lehren des
Christentums, die noch im 19. Jahrhundert zu aufgeregten
Debatten darüber führte, ob Christen sich nach dem Tode
verbrennen lassen dürften. In der Organspende-Debatte wird
bisweilen auch heute noch von manchen Sekten mit dieser
Lehre argumentiert.
Eine leibliche Unsterblichkeit kennen wir aus Altägypten mit
der Einbalsamierung der Pharaonen, die bereits im Neuen
Reich ab 1.550 v. Chr. gleichsam demokratisiert war (nach
ersten Tendenzen dazu schon zum Ende des Alten Reiches) zu
einer Möglichkeit für jeden Ägypter. Diese
"Demokratisierung" wird im Christentum institutionalisiert
mit der Lehre von der Auferstehung des Leibes. Im ersten
Korintherbrief schreibt Paulus hierzu: "Gesät wird ein
irdischer Leib, auferweckt ein geistiger Leib" (1 Kor
15,44). Im Zweiten Vatikanischen Konzil wird dieser
"Auferstehungsleib" 1965 in der Konstitution "Lumen gentium"
allerdings entindividualisiert zum Leib der Einheit in und
mit Christus, mit dem biblischen Verweis auf die Wiederkunft
Christi, "der unseren Leib der Niedrigkeit verwandeln wird
zur Gleichgestalt mit dem Leibe seiner Herrlichkeit" (Phil
3,21). Letztlich spricht sich das 2. Vatikanum damit gegen
den individuellen Auferstehungsleib aus. Es stellt sich die
Frage, was da noch vom Auferstehungsleib bleibe. Paulus hat
ihm schon die Leiblichkeit abgesprochen, das 2. Vatikanum
nun auch die Personalität.
Dahinter verbirgt sich eine der Paradoxien des Christentums,
einerseits den modernen Individualismus ideologisch mit zu
begründen in der Unmittelbarkeit des Einzelnen zu Gott,
andererseits wird ein starkes Kollektiv gebildet in der
Nachfolge Christi mit der Aufforderung, alte Bindungen - die
ja auch individuell geschichtlich gewordene Identität
bedeuten - aufzugeben. Nietzsche warf dem von Paulus
begründeten Christentum vor, eine Lehre der "Herden-Bildung"
geworden zu sein, gegen die ursprüngliche Lehre Christi, die
eine individuelle diesseitige Erfüllung propagiert habe
("Der Antichrist", 42 und passim).
Was dem Christentum oft als "Leibfeindlichkeit" angelastet
wurde, geht teilweise auf Paulus zurück, darüber hinaus auf
die manichäischen Einflüsse in der Lehre des Augustinus und
schließlich auf Züge des Protestantismus. Über der Kritik
hieran sollte nicht übersehen werden, welchen
außerordentlichen Schritt die damit verbundene Auffassung
von der Gottesebenbildlichkeit Christus darin tat, dass
dieser "Sohn Gottes" anders als alle seine Vorgänger daraus
keinen politischen Herrschaftsanspruch ableitete. "Mein
Reich ist nicht von dieser Welt" mag eskapistisch anmuten.
Und es hat den christlichen Kirchen nicht erspart, immer
wieder für politische Zwecke eingesetzt zu werden oder sich
selbst machtpolitisch aufzustellen. Es blieb jedoch dem
Islam vorbehalten, Religion wieder substantiell als
Instrument weltlicher Herrschaft zu begründen.
Sören Kierkegaard (1813-1855) fordert in der "Einübung im
Christentum" eine Wiederentdeckung der ursprünglichen
christlichen Lehre, die für jeden individuellen Einzelnen
einen Einweihungspfad anbiete, der mehr fordere als die von
Nietzsche und cum grano salis auch Kierkegaard selbst
kritisierte "Herden-Bildung". Der prägende Autor des
Christentums als Religion der Individualität war jedoch
Friedrich Schleiermacher (1768-1834). Am 14.12.1803 schreibt
er an Karl Gustav Brinckmann, den Freund gemeinsamer
Studienzeiten bei den Herrnhutern: "Das Ausgehen von der
Individualität bleibt aber gewiß der höchste Standpunkt, da
er zugleich den der Allgemeinheit und der Identität in sich
schließt."
Der Gott der Lichtwerdung
Eine der über Jahrhunderte erfolgreichsten Religionen der
Welt, mit einer Ausdehnung von Westeuropa bis China, vom 3.
nachchristlichen Jahrhundert bis ins 16. Jahrhundert, war
der Manichäismus. In der Forschungsliteratur wird der
Manichäismus bisweilen auch als ernsthafte Konkurrenz des
Christentums in Spätantike und frühem Mittelalter angesehen.
Ihr bekanntester Anhänger war der spätere "Kirchenvater"
Augustinus in seinen Jugendjahren, dessen Neuformulierung
des Christentums vielfältig durch den Manichäismus geprägt
ist, in Abgrenzung wie in Übernahmen.
Der Begründer Mani wurde um das Jahr 216 in Mardinu bei
Seleukeia-Ktesiphon am Tigris (beim heutigen Bagdad)
geboren, und wuchs ab seinem vierten Lebensjahr mit seinem
Vater in einer rein männlichen Gemeinde der
jüdisch-christlichen Täufersekte der Elchasaiten/Elkesaiten
auf. Mit zwölf (nach anderen Quellen elf) Jahren erlebte er,
so die Überlieferung, seine erste Erleuchtung in der
Begegnung mit seinem "kosmischen Zwilling" - nach einem
Konzept der frühen indoeuropäischen Religiosität. Mit 24
erfuhr er sich als "kosmischer Zwilling" von Jesus und
begann seine eigene Missionstätigkeit. Dem Vorbild des
Apostels Thomas (dessen Name "Zwilling" bedeutet) folgend,
dem er sich besonders verbunden fühlte, brach er im Jahr 240
zu einer Missionsreise nach Indien auf. Nach einigen
Wundertaten, Heilungen und Exorzismen wurde er dort als
Reinkarnation Buddhas angesehen. Dann missionierte er im
Iran, wo er Mitglieder des Sassaniden-Hofes für seine
Religion gewinnen konnte. Am Hof schrieb er später seine
Lehre nieder, die er nun als die eigentliche authentische
Lehre Zoroasters bezeichnete, im "Šābūragān" für König
Šābuhr (Regentenzeit 240-270). Nach Jahren der Verfolgung
durch den zoroastrischen Klerus, insbesondere den Reformer
Kartir Hangirpe, starb er während einer Haft am Hof des
sassanidischen Königs Bahram I. in Gundishapur an
Folterfolgen oder nach anderen Quellen durch Hinrichtung
276/77. Seine Anhänger sprachen von "Kreuzigung", um auch
darin an Jesus anzuknüpfen.
Mani berief sich auf Zoroaster, Buddha und Jesus. Er hielt
deren Lehren für unvollständig, zu sehr am Individuum
orientiert. Sein Anliegen war die Schaffung einer Universalreligion,
welche die nach seinem Urteil besten Elemente der drei
Religionen verbinden sollte. Vom frühen Christentum nahm er
die Verinnerlichung der Lichtverehrung, vom Buddhismus die
Erlösung der Erwählten durch Aufgehen in einem Umfassenden
und vom Zoroastrismus die Unbedingtheit der Moral.
Unübersehbar ist dabei und daneben vor allem der Einfluss
der Gnosis. Seinen theologisch ausgearbeiteten Entwurf
nannte er "Religion des Lichtes". Damit ist - wie schon im
frühen Christentum und vor allem der Gnosis - anderes
gemeint als die alte Sonnenverehrung. Licht ist, neben der
Dunkelheit, bei ihm eine der Ursubstanzen des Seienden,
beide sind ineins materiell und geistig-seelisch. Aufgabe
religiösen Lebens ist im Manichäismus, das Licht wieder zu
befreien aus dem Gefängnis in der dunklen Materie, zu der
auch der menschliche Körper, genauer: das an diesem
"Grobstoffliche", gehört. Diese Befreiung bedeutete bei Mani
nicht individuelle Auferstehung, sondern Aufgehen in Gott
als Licht. Die überlieferten Schöpfungsgeschichten wurden
bei Mani radikal umgedeutet als vorübergehende Störung einer
feinstofflichen Existenzform, die durch religiöse Praxis
rückgängig gemacht werden könne - die wiederum erst durch
Schöpfung möglich wurde. Die Auflösung dieses
Zirkelschlusses gelingt Mani nur über komplexe kosmogonische
Konstruktionen, die äußerliche Parallelen in den aktuellsten
Theoriebildungen zum Zusammenspiel von Supernovae, Schwarzen
Löchern und Urknall haben. Astronomisch-kosmologische
Aussagen der Manichäer wurden allerdings schon von
Augustinus als sachlich unrichtig kritisiert
(Drecoll/Kudella 2011, S. 81ff).
Im Manichäismus wird das im Christentum schon früh gepflegte
Konzept der weltlichen Existenz als Jammertal ins Extrem
getrieben und eine Erlösungsperspektive einzig durch eigenes
Verhalten propagiert. Vieles von dem, was dem Christentum
des Kirchenvaters Augustinus nachgesagt wird,
Leibfeindlichkeit im Besonderen, gilt in strukturell
auszeichnender Weise für den Manichäismus. Aus heutiger
Sicht äußerst befremdend ist, was Mani in einem seiner
Grundlagentexte, dem Šābuhragān, über das Aufwachsen des
Kindes schreibt: "And when (the human child) is born, it
nourishes the body and soul from these very miscarriages of
the devs and from the mixture of the gods, and (by this
means) it lives and reaches maturity. And it becomes a
garment for Az and a vessel for desire." (Handschrift M
7983, Zeilen 1204ff, zitiert nach Merecki/Beduhn 2001, S.
6). Abgeleitet daraus wird ein Fortpflanzungsverbot für die
Electi und ein Fortpflanzungsverzicht für die Auditores. Der
Mensch ist bei Mani - und zwar schon vor dem Sündenfall -
eine Bedrohung der restlichen Schöpfung: "Aber weder Wasser
noch Feuer noch Bäume noch Geschöpfe werden durch ihn froh."
(ebd. Zeilen 1221-1224, zitiert nach Hutter 1992, S. 107).
Das dritte nachchristliche Jahrhundert brachte den Zerfall
des römischen Reiches und des Partherreiches sowie
klimatische Krisen, die Region befand sich in Aufruhr, was
extreme religiöse Strömungen begünstigte. Ob die
pessimistischen Grundzüge des Manichäismus bezüglich des
Menschen über Augustinus in das Christentum kamen oder ob
die Lehre des Augustinus eine innere Entwicklung des
Christentums spiegelt, bleibt dahingestellt. Erinnert sei
daran, dass Mani in einer rein männlichen,
jüdisch-christlichen Täufergemeinschaft aufgewachsen war,
die vieles von dem bereits praktizierte, was er mit neuer
Begründung forderte, etwa Fleischverzicht und sexuelle
Enthaltsamkeit. Von dieser Sekte distanzierte er sich
allerdings mit 24 Jahren entschieden.
In Manis im philosophischen Sinne materialistischer Lehre
war das Licht feinstofflicher Träger aller
geistig-spirituellen Phänomene, aber diese weitgehend
abhängig auch von den grobstofflichen Prozessen. Mit der
grobmateriellen Schöpfung wurde das Licht gleichsam gefangen
gesetzt, was unter anderem zur Folge hat, dass die falsche
Ernährung (etwa mit Fleisch) das Lichthafte im Menschen
blockiert, gar zerstört. Doch nicht nur die
Nahrungsaufnahme, auch die Gestirne und die
Sinneswahrnehmungen nehmen Einfluß auf die Seele und ihren
Befreiungsweg - oder eben dessen Scheitern. Damit entwickelt
Mani eine weitgehend stringende Erklärung des
Leib-Seele-Problems, wie wir sie ähnlich aus der Stoa und
später von Spinoza kennen. Und er bietet innerhalb seiner
Kosmogonie auch eine übergreifende Begründung für den
Verzicht auf Sexualität und Fortpflanzung als Fortsetzungen
der Licht-Gefangenschaft. Besonders bemerkenswert ist seine
Lehre durch eine Unterscheidung in Gut und Böse, die quer
läuft zur Unterscheidung Körper-Seele, auch wenn dies nicht
immer durchgehalten wird. Sein Dualismus mit einer klaren
Substantialisierung des Bösen, die schon von Augustinus
kritisch gesehen wurde, war offen für die vor allem von den
Katharern später streng ausgeführte Unterscheidung in bösen
dunklen Körper und gute (Licht-)Seele, aber auch offen für
die christliche Vorstellung von der Auferstehung des
Fleisches.
Der Manichäismus radikalisierte die in allen anderen großen
Religionen vorhandene Verheißung einer Erlösung aus den
Willfährnissen der körperlichen Welt, als da sind Unfall,
Unglück, Leid, Schmerz, Krankheit, Böswilligkeit, Krieg und
Tod, in einer stringenten Erzählung von der Gefangenschaft
des Lichtes in dunkler Materie und seiner Erlösung durch das
Werk der Religion. Die Gläubigen zerfielen für Mani, wie in
der Gnosis, in zwei Klassen, Erwählte/Electi und
Hörer/Auditores, die Laien ("Hörer" ist ein Begriff aus dem
frühen Buddhismus für die ersten Anhänger des Buddha). Laien
haben die Chance, durch Erwählte mit erlöst zu werden oder
mit Anleitung durch die Erwählten günstige Voraussetzungen
für eine Wiedergeburt als Erwählte zu erlangen. Es kann
davon ausgegangen werden, dass Mani von seiner
Indien-Mission die Wiedergeburts-Lehre mitbrachte.
Was sich im Zoroastrismus schon andeutet (in den Gathas vor
allem in Y. 31,20), wird im Manichäismus drastisch
ausgestaltet: Die Gegenwelt der Hölle als Strafe für die
Verfallenheit an die grobmaterielle Welt. Mani scheint sich
dabei am Buddhismus orientiert zu haben. Für den
Zoroasthrismus seiner Zeit war Manis Lehre eine Provokation
in vielen Hinsichten. Es begann damit, dass er seine Lehre
als die eigentlich authentische Form des Zoroastrismus
bezeichnete. Das dem Zoroasthrismus heilige Feuer sah er als
affiziert durch Dunkelheit an und der Reinigung bedürftig.
Familie und Gesellschaft waren grundsätzlich verdächtig, im
Dienst der bösen Kräfte zu stehen. Als Religion zur
Mobilisierung gegen politische Gegner taugte der
Manichäismus wenig, da seine bösen Mächte in allen von uns
wirksam sind. Und wenn er in den Kephalaia häufig
unterscheidet in die Anhänger seiner Lehre und neidische
Gegner geschieht dies vor allem zur Warnung vor Verfolgung,
nicht als Aufforderung zur Abgrenzung. Der Manichäismus
folgte bei seiner Ausbreitung nach Ost und West
Handelswegen, nicht militärischen Operationen.
Ein klares Gottesbild ist im Manichäismus schwer zu
erkennen. Der Eklektizismus seiner Lehre bedingte die
Zusammenführung unterschiedlicher Götter und
Gottesvorstellungen in einen religiösen Kosmos, der zugleich
Astronomie-Astrologie und Elementelehre integrierte. In
ihrer Grundstruktur ist seine Lehre dualistisch, mit zwei
uranfänglichen Prinzipien, Licht mit der Konkretisierung
Ohrmizd als Urmensch und Finsternis mit der Konkretisierung
Ahrmen, deren Kampf die Leidensgeschichte der stofflichen
Welt einleitet und deren unheilvolle Verbindung die für die
Menschheit relevante Welt erschafft (s. Handschrift M 7980,
Zeile 533, Hutter 1995, S. 58). Es ist Aufgabe der
Menschheit, diese Verbindung aufzulösen zugunsten des
Lichtes - durch Enthaltsamkeit und Achtsamkeit.
Ein wesentlicher Kritikpunkt der frühen - christlichen -
Gegner des Manichäismus war der Vorwurf, die Schöpfung werde
über den Schöpfer gestellt. Als Götzendienst wurde die
Auffassung kritisiert, die "Himmelslichter" Sonne und Mond
(bei Franz von Assisi tausend Jahre später als "Bruder" und
"Schwester" angesprochen) seien ein Bindeglied für den
Aufstieg befreiter Lichtteile von der weltlichen Schöpfung
ins Lichtreich.So etwa bei einem alexandrinischen Bischof,
vermutlich Theonas (282-300), der in einem Gemeindebrief
Dtn. 17,2ff zitiert: "Wenn bei dir in einer deiner Städte,
die dir der HERR, dein Gott, geben wird, jemand gefunden
wird, Mann oder Frau, der da tut, was dem HERRN, deinem
Gott, missfällt, dass er seinen Bund übertritt und hingeht
und dient andern Göttern und betet sie an, es sei Sonne oder
Mond oder das ganze Heer des Himmels, was ich nicht geboten
habe, und es wird dir angezeigt und du hörst es, so sollst
du gründlich danach forschen. Und wenn du findest, dass es
gewiss wahr ist, dass solch ein Gräuel in Israel geschehen
ist, so sollst du den Mann oder die Frau, die eine solche
Übeltat begangen haben, hinausführen zu deinem Tor und
sollst sie zu Tode steinigen."
Basistexte: Manfred Hutter, Manis kosmogonische
Šābuhragān-Texte, Wiesbaden: Otto Harrassowitz, 1992. Iain
Gardner, The Kephalaia of the Teacher, Leiden u.a.: Brill,
1995 Lektüreempfehlungen:
Paul Merecki/Jason Beduhn (Hrsg.), The Light and the
Darkness. Studies in Manichaeism and its World, Leiden
u.a.: Brill, 2001 Richard Foltz, Religions of Iran. From
Prehistory to the Present, London: Oneworld
Publications, 2013
Vertiefung: Volker Henning Drecoll/Mirjam Kudella,
Augustin und der Manichäismus, Tübingen: Siebeck, 2011
Gott als Kampfgefährte
Muhammad ibn Abd Allah wurde in Mekka 570 geboren, sein
Vater starb kurz vor der Geburt, seine Mutter als er sechs
Jahre alt war. Er lebte gleich nach der Geburt bei seiner
Amme, später bei seinem Großvater. Der Großvater bezog seine
Einnahmen teilweise aus dem Pilgerwesen. Später wurde
Mohammed von einem Onkel mit auf Handelsreisen genommen, auf
denen er das Christentum vertieft kennenlernte. Mit 40
Jahren begründete er den Islam, 622 übersiedelt der
Religionsgründer auf Druck seiner Gegner von Mekka nach
Yathrib/Medina, 630 eroberte er mit seinen Anhängern Mekka,
632 starb er dort.
Sein Erweckungserlebnis hatte Mohammed nach seinem eigenen
Bericht im Jahr 610, während des Ramadan, des "heißen
Monats" im arabischen Kalender. Ein knappes Bekenntnis
dieses Erlebnisses ist in der Sure 96:1-5 zu finden. Diese -
wie auch andere Suren im Umkreis des Erweckungserlebnisses -
zeigt das Vorbild der Psalmen. Mohammeds Auftreten
orientierte sich in der Folge an den Figuren von Mose und
Jesus, die im Koran beständig präsent sind, auch namentlich.
Aufgewachsen im multireligiösen Pilgerort Mekka, dessen
Kaaba von Abraham erbaut worden sei, bei einem mit dem
Pilgerwesen beruflich befassten Großvater, war Mohammed mit
der jüdischen und mit der christlichen Überlieferung bestens
vertraut. Von ihnen übernahm er den radikalen Monotheismus,
den er verband mit einer Neubelebung des Tieropfers und mit
vormonotheistischen Göttlichkeitsvorstellungen, die das
Numinose als fortdauernd in der Schöpfung tätig wirksam
ansahen. Er verstand seine Lehre - ähnlich wie Mani - als
Weiterentwicklung und Vollendung der vorgefundenen
Religonen. Seine Lehre und seine Anhängerschaft wurden in
Mekka sowohl von jüdischer wie christlicher Seite, als auch
von Anhängern polytheistischer Religionen angegriffen.
In aktuellen Debatten wird vor dem Hintergrund
islamistisch-fundamentalistischer Gewalttaten und
Machtergreifungen in verschiedenen Staaten die
grundsätzliche Friedensfähigkeit des Islam thematisiert.
Kritisch schreibt dazu Tilman Nagel in "Islam oder
Islamismus? Probleme einer Grenzziehung" schon 2005: "Islam
und Islamismus sind so lange nicht voneinander zu trennen,
wie Koran und Sunna als absolut und für alle Zeiten wahr
ausgegeben werden." Obgleich seine Position unter
gewandelten Diskursbedingungen zwischenzeitlich als
islamophob verdächtigt wurde, wird Nagel noch zustimmend
zitiert von Hamed Abdel-Samad 2023 in "Islam. Eine kritische
Geschichte" (Abdel-Samad 2023, S. 238f). Abdel-Samad wendet
sich entschieden dagegen, aus dem Koran eine
Friedensbotschaft herauslesen zu wollen. "Wer bestimmte
Passagen aus dem Koran als Legitimation für den Frieden
heranzieht, spielt letztlich das Spiel der Fundamentalisten,
die andere Passagen als Rechtfertigung für Gewalt zitieren."
(Abdel-Samad 2023, S. 282) Abdel-Samad legt vielmehr dar,
wie der Islam mit dem einer Vertreibung nahekommenden Umzug
(der "Hidschra") der Gemeinde Mohammeds nach Medina zu einer
Religion der gewaltsamen Auseinandersetzung mit den Gegner
wurde, was 630 schließlich zur Eroberung Mekkas durch die
Anhänger Mohammeds führte (Abdel-Samad 2023, S. 77-88 =
Kapitel 2: "Von Mekka nach Medina: Die Geburt der Scharia
aus dem Geist des Krieges"). Religiöse Führung und
politische Führung sind seitdem im Islam nicht mehr zu
trennen, die Idee vom Gottesstaat steht an der Wiege des
Islam.
Sowenig das Christentum sich mit Ableitungen aus der Bibel
zur Öko-Religon erklären lässt, so wenig kann überzeugend
der Islam mit Ableitungen aus dem Koran zur Friedensreligion
erklärt werden. Allerdings ist im Islam strukturell weit
eher als im Christentum ein achtsamer Umgang mit der Natur
angelegt, insbesondere durch die Überzeugung von der
fortdauernden Präsenz Gottes in seiner Schöpfung. Die
herausragende Bedeutung der knappen Ressource Wasser und die
immerwährende Bedrohung der Oasen im Entstehungsbereich des
Islam durch Wüste schlagen sich in Passagen des Koran
nieder, die durchaus ein im heutigen Sinne "ökologisches"
Naturverhältnis propagieren. Besonders prägnant ist die Sure
4:119, wo ausführt wird, wie der Satan Ungläubige dazu
verführt, die Schöpfung zu verunstalten. In der Sure
55:11-14 wird deutlich gemacht, dass die Schöpfung nicht für
den Menschen alleine, sondern für alle Geschöpfe gemacht
sei.
Das Bild des Gartens steht repräsentativ für die
Naturauffassung des Islam. Im Koran finden sich 150 Stellen
zu Garten ("dschanna"), davon 59 Stellen zum Paradiesgarten
- der nach islamischer Vorstellung in Mekka lag, im Bereich
der Kaaba. In der Sura al-Baqara erscheint der Garten als
Erfüllungsort für die Gläubigen, die wohltätig sind einzig
um Allah zufrieden zu stellen und für das eigene Seelenheil,
nicht vordergründiger Anerkennung wegen. Dem Garten
gegenübergestellt ist der Stein, der von einer Schicht
Muttererde überzogen ist, die bei Regen abgespült wird
(2:265) - während der Garten bei Regen reiche Früchte trägt
(2:266).
Im regnerischen Frühjahr 2023 war ich eine Woche im
Schwarzwald unterwegs. Beim Warten auf einen Bus holte ich
mir einen Döner beim Imbiss an der Haltestelle und setzte
mich nach draußen. Als es gerade wieder einmal zu nieseln
begann, kam der Wirt, um die Markise weiter auszufahren. Er
stelle sich neben mich und meinte: "Ich bin Moslem. Für uns
ist der Regen sehr wichtig!" Was mich etwas irritierte, denn
Regen ist doch unanbhängig von der Religion für alle
Landwirte und Gärtner, letztlich für uns alle von Bedeutung.
Und im Schwarzwald muss man sich auch selten vor Dürren
fürchten. Seine Äußerung macht aufmerksam auf zweierlei, das
nicht nur für den Islam gilt: Religionen machen abhängig von
ihren Entstehungsumständen besonders sensibel für bestimmte
Weltphänomene. Und ihre Mitglieder neigen dazu, diese
Sensibilität als Bestimmungsmerkmal zu verstehen.
Im Sufismus, einer mystischen Strömung des Islam, sind nicht
vorrangig Ungläubige, sei es als politisch-religiöse Gegner,
sei es als Bedroher der Schöpfung, Agenten der Gottferne,
sondern der Dogmatismus der eigenen Religion. Rābi'a
al-'Adawiyya, dem Sufismus zugeordnete islamische Mystikerin
des 8. Jahrhunderts, ging einer Legende zufolge durch die
Straßen ihrer Stadt Basra mit einem Eimer Wasser in einer
Hand und einer Fackel in der anderen: "Ich will Wasser in
die Hölle gießen und Feuer ans Paradies legen, damit diese
beiden Schleier verschwinden und niemand mehr Gott aus
Furcht vor der Hölle oder in Hoffnung auf das Paradies
anbete, sondern nur noch um Seiner ewigen Schönheit willen."
(Schimmel 1982, S. 21)
Lektüreempfehlungen:
Hamed Abdel-Samad, Islam. Eine kritische Geschichte,
München: dtv, 2023 Annemarie Schimmel (Hrsg.): Gärten der Erkenntnis.
Das Buch der vierzig Sufi-Meister, München: Dieterichs,
1982
Joachim von Fiore. Das Dritte Reich des Geistes
Joachim von Fiore (~1130/35-1202) war Sohn eines Notars in
Diensten des normannischen Hofes, geboren in
Celico/Kalabrien, an den Hängen des Sila-Gebirges bei
Cosenza. Nach einer standesgemäßen Ausbildung arbeitete er
einige Jahre als Notar in Cosenza und dann in der Kanzlei am
Hof von Wilhelm I. in Palermo. Ab etwa 1160 widmete er sich
verstärkt religiösen Themen, pilgerte 1166/67 nach
Jerusalem, zog als Prediger durch die Lande und trat
schließlich in das Zisterzienserkloster Corazzo ein, wo er
als Abt wirkte. Bemühungen, sein Kloster einem anderen zu
affilieren, scheiterten zweimal mit der Begründung, seine
Mönche seien zu arm. 1188 wurde Corazzo an Fossanova
(Latium) affiliert. Joachim verließ dann sein Kloster und
zog sich zurück, sammelte in seiner Einsiedelei jedoch eine
Gruppe von Anhängern um sich, mit denen er ein
Johannes-Kloster im Sila-Gebirge gründete, das die Regel des
Heiligen Benedikt erneuern sollte. 1191 wurde sein Orden der
Florenser anerkannt, als strengere Abspaltung von den
Zisterziensern, die ihrerseites erst 1098 als Orden einer
strengeren Observanz des Benediktinertums bestätigt waren.
Joachim lebte und wirkte im zeitlichen und konzeptionellen
Umfeld einer außergewöhnlichen Belebung des Mönchtums und
der Blüte zahlreicher religiöser Bewegungen, etwa des
Katharertums, er war älterer Zeitgenosse des Franz von
Assisi und des Dominikus von Caleruega.
Er begann seine religiöse Wirksamkeit als apokalyptischer
Wanderprediger, der das unmittelbar bevorstehende Erscheinen
des Antichristen und den Anbruch des Tausendjährigen Reiches
verkündete. Wie auch die anderen Apokalyptiker seiner Zeit
bezog er sich dabei auf das Johannesevangelium. 1185 hatte
er nach eigenem späteren Bekenntnis bei der Lektüre des
Johannesevangelium (Joh. 14,16ff) zu Ostern seine Vision vom
Dritten Reich des Geistes, das angebrochen sei, nach dem
Reich des Vaters und dem Reich des Sohnes. Seine um das Jahr
1200 ausgearbeitete Konzeption vom Dritten Reich ist
widersprüchlich und bricht implizite mit den vertrauten
messianischen Konzeptionen, die er selbst zunächst
vermutlich vertreten hatte, in zweifacher Weise. Zum einen
folgen seine drei Reiche nicht abrupt aufeinander, sie
überschneiden sich vielmehr. Zum zweiten verdankt sich die
Verwirklichung des Dritten Reiches nicht einer singulären
Erlöserfigur, Protagonisten sind vielmehr im Grundsatz alle
Menschen, vorrangig gelehrte Mönche, aber auch Laien, Männer
wie Frauen, ausgezeichnet durch eine besondere Gottesnähe
ohne Unterwerfung oder Gefolgschaft. "Es ist nicht nur der
Kreuzestod Christi, der von den Sünden befreit, die Erlösung
ex toto bringt erst die endzeitliche Ausgießung des
Heiligen Geistes." (Riedl 2004, S. 268).
Das Reich des Vaters (mit dem Gott Abrahams) ist nach einer
berühmten späten Bildtafel des Joachim zunächst bestimmt
durch das Alte Testament, dann auch durch das Neue.
Das Reich des Sohnes (mit dem Gott Isaaks) ist bestimmt
durch das Alte und das Neue Testament gleichermaßen. Und das
Reich des Geistes (mit dem Gott Jakobs) wird greifbar
zunächst im Alten Testament, dann ausschließlich im Neuen,
mit Christus als Verkünder des Geistes der Wahrheit. Die
Auflösung der Trinität in drei historisch aufeinander
folgende Stufen ist eine der originellsten Leistungen
Joachims, auch wenn sie auf der christlichen Auslegung des
Alten Testamentes als Vordeutung Christi und anderen
heilsgeschichtlichen Lehren seiner Zeit aufbaute.
Bemerkenswert ist auch seine vollkommen diesseitige
Auffassung des heilsgeschichtlichen Abschlusses in einem
"Dritten Reich", gegen die Jenseitsorientierung bei Paulus
und Augustinus. Der Teufel und die Hölle haben keinen
substantiellen Platz in seiner Lehre, die trotz ihrer
starken Formalisierungen Religion prozessual versteht. "Der
Geist ist es, der die verdorbene Natur des Menschen heilt
und ihn damit der göttlichen Sohnschaft würdig macht."
(Riedl 2004, S. 269) Heilsgeschichte wird bei Joachim zur
Fortschrittsgeschichte und zur Realisierung einer sozialen
Utopie. Der fleischliche Leib wird bereits vor der
Auferstehung der Toden in einen geistigen verwandelt - und
nicht zugunsten des geistigen abgetötet. "Im Unterschied zu
Paulus aber glaubt Joachim, daß sich der Wesenswandel vom
animalischen zum geistlichen Menschen geschichtlich
vollzieht" (Riedl 2004, S. 266). Dazu finden wir allerdings
schon bei Augustinus Ansätze, etwa wenn er von den
Nachkommen Kains sagt, sie seien zwar "zunächst böse und
fleischlich", dann aber werden sie "durch Wiedergeburt und
Wachstum in Christus" später "gut und geistlich" (De
civitate dei, XV,1).
Joachims Geist-Gott greift wieder den Ansatz zur
gesellschaftlichen Organisation auf, der den
alttestamentarischen Gott auszeichnet, legt nun aber die
Entwicklung von Regelwerken in die Hände der Menschen, die
Mitglied der Kirche sind, ob Mann oder Frau, als Aushandlung
und Einsicht, nicht als rigide Gesetzesbefolgung. Fiores
kategoriale Bestimmungen für diese Phase der
Menschheitsentwicklung lauten: "noch reichere Gnade",
"Vollkommenheit der Erkenntnis", "Freiheit", "Liebe" und
"Freundschaft". Der Beginn habe bei Benedikt von Nursia
gelegen, im Überschneidungsbereich aller drei "Reiche". Nach
diesem tausendjährigen Friedensreich (das nach dem
Joachimschen Schema genau besehen zur Lebenszeit Joachims
bereits 500 Jahre währte) folgt allerdings auch bei Joachim
das "Finis mundi" mit dem etablierten Programm, Auferstehung
der Toten, Jüngstes Gericht.
Joachims Einfluss auf Lessings Aufklärung und die
Geistphilosophie Hegels ist bekannt, auch wenn dieser
Einfluss inhaltlich bei beiden kaum explizit wird. Auguste
Comte reihte den Ordensgründer ein in die Ahnenreihe des
Positivismus. Friedrich Engels bezieht sich in seinem Buch
über den Bauernkrieg auf Joachim von Fiore, später Ernst
Bloch in "Das Prinzip Hoffnung". Für den Soziologen Eugen
Rosenstock-Huessy war die russische Revolution ideologisch
durch Joachim von Fiore inspiriert. Die immer wieder
behaupteten Bezüge des Nationalsozialismus zu Fiores
Konzeption vom "Dritten Reich des Geistes" - angeblich
vermittelt durch Arthur Moeller van den Brucks Buch "Das
Dritte Reich" von 1923 - lassen sich nicht belegen. Moeller
erwähnt Joachim von Fiore nicht, bezieht sich allerdings
gelegentlich auf Hegel. Im übrigen hat der
Nationalsozialismus sich entschieden von Moellers Konzeption
einer konservativen Revolution distanziert (vgl. André
Schlüter 2010). Und die Prophezeiung eines Tausendjährigen
Reiches stammt aus der Johannes-Offenbarung, 20. Kapitel.
Gelegentlich wird zur näheren Bestimmung auch auf Joh. 18,36
und andere Bibelstellen verwiesen, die allerdings keine
Zeitdauer nennen.
Matthias Riedl kommt in seiner materialreichen
politologischen Dissertation allerdings zum Schluß, dass
Joachim "weder ein Revolutionär noch ein Utopist, sondern
ein Reformer" gewesen sei, ein Reformer der bestehenden
"römisch-katholischen Papstkirche" (Riedl 2004, S. 204).
Joachims Vision war, so Riedl, die "vollendete Kirche" mit
dem Ende jeder weltlichen Herrschaft im Diesseits (Riedl
2004, S. 278). Vergleiche mit dem Philosophenstaat Platons
drängen sich auf, aber auch der Begriff "Gottesstaat", ohne
das dualistische Komplement einer Civitas terrena wie bei
Augustinus. Lektüreempfehlung: Matthias Riedl, Joachim von Fiore.
Denker der vollendeten Menschheit, Würzburg: Königshausen
& Neumann, 2004
Quelle: Marjorie Reeves/Beatrice Hirsch-Reich, The Figurae
of Joachim of Fiore, Oxford: Oxford University Press, 1972
Abbildung: Trinitätskreise aus dem Liber Figurarum
des Joachim von Fiore
Deus Sive Natura - Baruch Spinoza
Der Beitrag Spinozas (1632-1677)
zur Gottesauffassung wird im Allgemeinen mit der Formel
"deus sive natura" benannt, verstanden als "Gott=Natur".
Spinoza lieferte damit zum einen die
philosophisch-theologische Begründung für einen
respektvollen Umgang mit der gegebenen Welt als
Vergegenwärtigung Gottes, zum anderen provozierte er damit
die jüdische ebenso wie die christliche Orthodoxie, indem er
die Sonderstellung des Menschen Gott gegenüber ihres
theologischen Fundamentes beraubte und damit auch die
Messias-Figuration in Frage stellte.
Dass bei Spinoza in der Tat eine Gleichsetzung von Gott und
Natur gemeint ist, zeigt die häufig zitierte Passage in
seiner posthum erschienenen "Ethik", mit den Verbformen im
Singular: "Ratio igitur, seu causa, cur Deus, seu Natura
agit, & cur existit, una, eademque est." (Ethik, Teil
IV, Vorwort, Reclam-Ausgabe 1977, S. 438 - "Also ist der
Grund oder die Ursache, warum Gott, d.h. die Natur, handelt
und warum er existiert, ein und dieselbe."). Die damit
formulierte pantheistisch-naturalistische Position bedeutet
allerdings noch keine klare Absage an eine besondere
Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Der Mensch könnte ja in
Analogie zur Schöpfungskraft der Natur/Gottes tätig werden.
Immerhin erwartet Spinoza vom Menschen, dass er die Einheit
seines Geistes mit der Natur begreife ("Abhandlung über die
Verbesserung des Verstandes" - Einleitung, Absatz 13) - und
damit zum Glück gelange. Der Ausgangspunkt der Philosophie
Spinozas war eine durchaus der Buddhas vergleichbare
Bemühung um eine Auffassung von Gott und der Welt, die
unabhängig von zufälligen Lebensumständen und Stimmungen
Glück sichere.
Spinoza unterscheidet an der Natur - und damit an Gott - im
Anschluss an die scholastische Tradition im ersten Teil der
"Ethica" die "natura naturans" von der "natura naturata".
Die auf Aristoteles zurückgehende Unterscheidung finden wir
in den Aristoteles-Übersetzungen und Kommentaren von
Averroës und Michael Scottus im 12. Jahrhundert. Die "natura
naturans" wurde in der Scholastik verstanden als
Schöpfergott und scharf getrennt von der "natura naturata",
der Schöpfung mit den Geschöpfen. Spinoza hebt diese
Unterscheidung nun auf, beide zusammen machen bei ihm
Gott/die Natur aus. Damit schafft er ein System, innerhalb
dessen alles Seiende Gott ist und damit vollkommen. Realität
und Vollkommenheit sind für Spinoza ein und das selbe, "per
realitatem, & perfectionem idem intelligo" (Ethica Pars
II, Definitiones VI). Alle menschlichen Fähigkeiten sind
nichts weiter als Teil der "natura naturata", explizit gilt
dies auch für den "intellectum" (Ethica Pars I, Propositio
XXXI). Und diese gewordene Natur ist "in Gott" - wie er
unter anderem ausführt in seiner "Kurzen Abhandlung", Erster
Teil, Zweites Kapitel. Der Theologe Klaus Müller vertritt -
unter anderem in "Streit um Gott" 2006 - die Auffassung,
Spinoza habe wesentlich dazu beigetragen, die
"All-Einheitsintuition" in das Christentum zu integrieren
(Müller 2006, S. 15, 89ff und passim).
Spinoza schneidet radikal alle Versuche ab, ein Gottesbild
zu formulieren, das religiöse Dogmatik, Kultus und
Sakramente begründet. Sein Gott, seine Natur ist wesentlich
durch zwei Attribute, und nur durch diese, nämlich Denken
und Ausdehnung gekennzeichnet. Da ist kein Platz für Gebote
oder Strafen, aber auch nicht für Gnadenakte. Bis hin zur
Aussage, "Daher kann man nicht sagen, Gott liebe die
Menschen" - "Kurze Abhandlung", Zweiter Teil,
Vierundzwanzigstes Kapitel, Abschnitt 2. Dies hat ihm immer
wieder den Vorwurf des Atheismus eingebracht. Doch Gott wird
von ihm bezeugt als Ziel der "amor Dei", die den Menschen
auszeichne. Dargestellt wird diese Liebe in der "Kurzen
Abhandlung", Zweiter Teil, Zweiundzwanzigstes Kapitel, als
eine Liebe aus umfassender Erkenntnis in das Wesen Gottes,
der uns und die Welt begründet und ausmacht. Für Ernst Bloch
manifestiert sich darin ein Umschlag in Mystik bei Spinoza.
Nimmt man Theismus als Lehre von der Existenz eines persönlichen
Gottes, gilt der Vorwurf des Atheismus Bloch zufolge
gleichwohl bezogen auf das System Spinozas.
Ein gängiges positives Urteil zu Spinoza besagt, dass er ein
Beweis dafür sei, dass ein Mensch auch ohne Glaube an Gott
ein zutiefst ethisches Leben führen könne. Doch Spinoza war
gläubig, er glaubte an einen Sinnzusammenhang von allem, von
Allem im umfassendsten Sinne verstanden, garantiert durch
die erkennbare Einheit von Gott und Natur. Seine Ethik
entspricht ganz und gar seinem Gottesbild, es gibt in dieser
Ethik keine Gebote und Verbote, keine Strafen und keine
Belohnungen. Spinoza benötigt keine Teufel und Dämonen, "um
die Ursachen von Haß, Neid, Zorn und dergleichen
Leidenschaften zu finden, weil wir diese Ursachen ohne
derartige Fiktionen genugsam gefunden haben" - "Kurze
Abhandlung", Zweiter Teil, Fünfundzwanzigstes Kapitel,
Abschnitt 4.
Die Ursachen dieser Leidenschaften sind für Spinoza falsche
Meinungen, Irrtümer, verfehlte Lernprozesse. Spinoza hat mit
Scharfsinn bereits moderne psychologische, psychosoziale und
psychophysiologische Konzepte wie soziales Lernen,
Modelllernen, Kondiditionierung, Traumatisierung oder
Belohnungssystem vorgedacht zur Begründung und Therapie
schädlicher "Leidenschaften". Im Kapitel "Von der wahren
Freiheit" in der "Kurzen Abhandlung" erklärt Spinoza, dass
wir Leidenschaften nicht "bezwingen" können, sondern nur
aufheben in der Freiheit unserer Gotteserkenntnis. Konkret
hat er dies ausgeführt in einem vorangegangenen Kapitel,
"Von unsrer Glückseligkeit". Dort fordert er explizite eine
Versöhnung mit unserer Körperlichkeit, denn "die Ursache der
Liebe, des Hasses und der Trauer (dürfen) nicht im Körper
gesucht werden". Vielmehr müsse "die Seele" aufgeklärt
werden, um schädliche Leidenschaften zu überwinden.
Allerdings erklärt er an anderer Stelle auch,"daß man sich
um diesen Körper nicht kümmern solle" (Spinoza 1991, S.
103). Einen Lobpreis der Leiblichkeit dürfen wir also bei
Spinoza nicht erwarten.
Gut und schlecht sind für Spinoza nur "Modi des Denkens".
Sobald wir dies aufgeklärt haben, ist der Weg frei, die als
"schlecht" eingeschätzten Verhaltensweisen auf ihre
Begründung hin zu befragen und durch Aufklärung und
korrigierende Intervention ein für das eigene Glück und das
gesellschaftliche Ganze (zu diesem siehe Ethika Zweiter
Teil, Lehrsatz 49, Anmerkung Ende) adäquateres Verhalten zu
motivieren. Gott hat als moralische Instanz hier keinen
Platz mehr, das macht Spinoza in seiner Ethik ganz deutlich,
wo er im Anhang zum Ersten Teil, "De DEO", die Vorstellung
von hilfreichen und strafenden, zweckhaft handelnden Göttern
als Aberglaube darstellt, der auf Unwissenheit basiere.
Wissen aber ist das, was er "Ordine Geometrico" vermitteln
möchte.
"Es ist die Seele kein Fremdes auf Erden", so lautet die
Botschaft dieses unbeirrbaren Geistes, unbeirrbar behauptet
gegen alles Bestreben, auf der Grundlage von Religion das
Leben auf Erden zum Jammertal zu machen - wie er immer
wieder auch persönlich erfahren musste.
Lektüreempfehlung: Arno Münster (Hrsg.), Ernst Bloch und
Spinoza. Erläuterungen zu den Leipziger Vorlesungen,
Mössingen-Talheim: Talheimer Verlag, 2021
Quelle: Baruch de Spinoza, Kurze Abhandlung von Gott, dem
Menschen und dessen Glück. Auf Grundlage der Übersetzung
von Carl Gebhardt neu herausgegeben von Wolfgang
Bartuschat, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1991
Der
persönliche Gott bei Edith Stein - Das unwiederholbare
Gottessiegel
Edith Stein wurde am 12. Oktober 1891 in Breslau geboren und
am 09. August 1942 in Auschwitz-Birkenau ermordet.
Kurz nach der Freigabe des Hochschulstudiums für Frauen in
Preußen 1908 schrieb Edith Stein sich 1911 in Breslau für
Philosophie, Psychologie, Geschichte und Germanistik ein.
Nach der Lektüre von Edmund Husserls „Logische
Untersuchungen“ wechselte sie 1913 zur Philosophie bei
Husserl in Göttingen, wo sie bald bei ihm mit einer
Promotion über den Begriff der Einfühlung begann. Als
Husserl im April 1916 einem Ruf nach Freiburg folgte,
schickte sie ihm das dreibändige Manuskript ihrer Arbeit
nach. Auf Husserls positive Reaktion bot sie ihm an, als
seine private Assistentin nach Freiburg zu kommen, was
Husserl annahm. Anfang August legte sie in Freiburg bei ihm
ihr Rigorosum ab.
Neben ihren philosophischen Arbeiten engagierte sie sich
schon früh sozial. 1915 hatte sie sich nach dem
pädagogischen Staatsexamen zu einem freiwilligen
Lazarett-Einsatz in Mährisch-Weißkirchen, an der
Karpatenfront, gemeldet. 1918 pflegte sie Husserl während
einer schweren Krankheit - nach dem Zeugnis des
Husserl-Schülers Fritz Kaufmann. Im gleichen Jahr gibt sie
die Assistentenstelle bei Husserl auf, da Husserl ihr die
Habilitation verweigerte mit dem Verweis darauf, dass dies
für Frauen noch nicht gestattet sei.
Zur Enttäuschung durch die Verweigerung einer Laufbahn als
Hochschullehrerin trat in den Jahren nach dem Ersten
Weltkrieg als Belastung ein Bruch in der Freundschaft mit
dem Kommilitonen Roman Ingarden, der nach seiner Promotion
1918 Freiburg verlassen hatte. Stein beschäftigte sich in
diesen Jahren intensiv mit dem christlichen Glauben, was
Ingarden befremdete. Beeindruckt war sie unter anderem durch
ihre ältere Freundin Anna Reinach, die 1916 zusammen mit
ihrem Mann Adolf, einem Mentor und Freund Steins, in die
evangelische Kirche eingetreten war und nach dem Tod ihres
Mannes - als Kriegsfreiwilliger 1917 - in der Religion
Zuflucht fand. Kurzzeitig engagierte Stein sich nach dem
Kriegsende auch politisch in der linksliberalen DDP
(Deutsche Demokratische Partei), zog sich aber rasch aus dem
parteipolitischen Geschehen zurück und engagierte
sich nun frauenpolitisch als Vortragsrednerin.
1922 konvertierte Stein zum Katholizismus, sah dies
allerdings nicht als Bruch mit ihrer jüdischen Prägung an,
sondern in Kontinuität, und nahm den Taufnamen „Teresa“ an.
Die Autobiographie der Teresa von Avila hatte sie 1921
studiert. Dann arbeitete sie als Lehrerin und
Pädagogik-Dozentin in Speyer, in einer Einrichtung der
Dominikaner, gerät aber 1933 als „Nicht-Arierin“ in
Bedrängnis und kündigt das Anstellungsverhältnis, das
ohnedies schon mit ihren wissenschaftlichen Arbeiten
zunehmend in Konflikt geraten war. Im Herbst 1933 trat sie
in den Karmel Köln-Lindenthal ein, 1935 wurde sie für ihre
Arbeit an "Endliches und ewiges Sein", die sie dann Anfang
1937 abschloss, von klösterlichen Verpflichtungen entbunden.
Am Silvesterabend 1938 verließ sie Deutschland und fand
Zuflucht im Karmel Echt, wenig entfernt von der
deutsch-niederländischen Grenze. Am 7. August 1942 wurde sie
zusammen mit ihrer Schwester Rosa vom niederländischen
Sammellager Westerbork nach Auschwitz deportiert, wo beide
am 9. August getötet wurden.
Papst Johannes Paul II. hat sie am 01.05.1987
seliggesprochen und am 11.10.1998 heilig. Er erklärte sie
1999 zusammen mit Katharina von Siena und Birgitta von
Schweden zur Patronin Europas, neben bereits zuvor ernannten
drei Männern.
*
Die wesentliche Schrift Steins zum Verständnis ihrer
Gottesauffassung ist "Endliches und ewiges Sein", entstanden
im Kölner Karmel, geplant zunächst als Druckvorbereitung
ihres ursprünglich zur Habilitation vorgesehen Manuskripts
"Potenz und Akt", wozu sie von Theodor Rauch, ihrem
Provinzial, beauftragt war. Nach kurzer Zeit entschied sich
Stein, nur einen kleinen Teil des Manuskripts zu übernehmen
und eine neue Arbeit zu verfassen, die nach weniger als zwei
Jahren abgeschlossen war, mit zwei Anhängen, zu Martin
Heidegger und zu Teresa von Avila. Im Vorwort zu diesem
Werk, das in der Stein-Forschung als ihr "Opus magnum" gilt,
schreibt sie "Dieses Buch ist von einer Lernenden für
Mitlernende geschrieben."
In Kapitel VII, "Das Abbild der Dreifaltigkeit in der
Schöpfung", zeigt Edith Stein den Weg von der Suche nach dem
Sinn des Seins zum "Urheber" allen endlichen Seins, zum
dreifaltigen Gott. Diese Dreifaltigkeit nun sei auch in der
Schöpfung als dem "Abbild der Drei-Einheit" zu finden. Stein
führt zunächst aus, dass die Dreifaltigkeit als
"dreipersönliches Sein" zu verstehen sei (Stein 2006, S.
303). Das Ganze der Schöpfung ist dann jedoch nicht ihr
Thema, es geht nur noch um den Menschen als Schöpfung, den
Menschen in seinem "leiblich-seelisch-geistigen" Sein, womit
sie die gesuchte Dreiheit in der Schöpfung als "persönlich"
identifiziert. Sie ist "zum menschlichen Sein als dem uns
vertrautesten zurückgekehrt, an dem uns am ehesten der Sinn
des Personseins klar werden kann" (Stein 2006, S. 323).
Darüber hinaus kommt sie nur noch zu den rein geistigen
Wesen als Teile der Schöpfung, den Engeln, in Paragraph 5,
überschrieben mit "Die geschaffenen reinen Geister".
Ausgehend von Thomas von Aquin entfaltet sie dort, aus
heutiger fachphilosophischer Sicht eher befremdlich, in
knappen Zügen die "Möglichkeit einer philosophischen
Behandlung der Engellehre" (Stein 2006, S. 323). Dabei geht
es ihr um die "Wesenserkenntnis des Geistes" (ebd. S. 327).
Engel sind in ihrer Argumentation gleichsam ein missing link
vom persönlichen Menschsein zum göttlichen Geist.
Paragraph 9 des Kapitels VII gilt dann dem "Gottesbild im
Menschen". Das Kapitel beginnt mit der erneuten Bekräftigung
der Konzeption eines persönlichen Gottes, seiner
"Hineingestaltung in den Raum". Höchste Form dieser
Hineingestaltung ist der Mensch, als einziges Geschöpf mit
einer Persönlichkeit, die ihn zum "bildenden Geist" macht
und damit zum unmittelbaren Abbild Gottes (Stein 2006, S.
360) - auch wenn die Tierseele bereits eine "Vorstufe
geistigen Lebens" erreiche. Zum Abschluss des Paragraphen
entfaltet sie ihre Überzeugung von der "dreifaltigen
Formkraft der Seele" in "Leib-Seele-Geist", die umfassend
die Dreifaltigkeit Gottes im Menschen belege (Stein 2006, S.
390). Denn die Seele forme auch den Leib, sei diesem nicht
feindlich gegenüber gestellt. Eine Konzeption des
persönlichen Gottes, die sie auch sehr prägnant in ihrer
Übersetzung der Hauptschriften des Dionysius Aerophagita,
"Von den göttlichen Namen" und "Kirchliche Hierarchie",
herausarbeitet (vgl. z.B. Band 17 der Gesamtausgabe, Seite
236, Abschnitt VII.3 des Textes "Kirchliche Hierarchie").
Im Kapitel VIII, "Sinn und Begründung des Einzelseins",
schreibt sie dann:
„Wir glauben jetzt ein wenig besser zu verstehen, daß die
Abstammung des Menschen von menschlichen Erzeugern ihn an
Leib und Seele zu ihresgleichen macht und daß er sich
trotzdem rühmen darf, unmittelbar ein Gotteskind zu sein und
ein eigenes unwiederholbares Gottessiegel in seiner Seele zu
tragen.“ (Stein 2006, S. 433)
Verstehen lässt sich Edith Steins Ansatz auch als ein
Versuch, Heideggers Seins-Philosophie gleichsam umzuwenden.
Heidegger geht in "Sein und Zeit" bei der Frage nach dem
Sinn des Seins vom Seienden des Menschen aus. Stein geht bei
der Frage nach dem Sinn menschlicher Existenz vom höchsten
Seienden, Gott, aus. Es zeigt sich hier eine gewisse
Analogie zu ihrem Umgang mit der Glaubenslehre der Teresa
von Avila, "Die Seelenburg" (neu als "Wohnungen der Inneren
Burg"). Während Teresa die menschliche Seele als den Ort der
Gottesbegegnung ansieht, vom "Abstieg ins Innere" spricht,
wählt Stein in "Wege der Gotteserkenntnis" und
"Kreuzeswissenschaft", in den Auseinandersetzungen mit
Dionysius Areopagita und Johannes vom Kreuz, das Bild vom
Aufstieg auf den "Gipfel des Berges". Nach Auffassung ihrer
Herausgeberin Beate Beckmann entspricht dieses Bild eher
ihrer eigenen Auffassung (ESGA 17, S. 2f).
Steins Gottesbild ist essentiell mit ihrem Menschenbild
verbunden. Und dies nicht in jenem banalen Sinn, dass Gott
nach dem Bild des Menschen und seiner Bedürfnisse gestaltet
sei. Ihr Gott ist Person, ist in einem schwer zu fassenden
Sinne einzeln, ist Gegenüber, ist Partner - und dies in
jedem Menschen, der uns begegnet, der ihr, Edith Stein,
begegnete. Das ist nicht einfach nur eine Neuauflage des
anthropomorphen Gottesbildes. Der persönliche Gott Edith
Steins ist zwar ansprechbar, aber keineswegs der nette alte
Herr mit Bart, sondern eine philosophisch aufgeklärte
Vorstellung, die in den Grundzügen dem Gott Descartes in den
"Meditationen" (Dritte Meditation) entspricht, wonach "die
Vorstellung Gottes der des Ich vorausgeht". Das "Ich bin"
ist damit gleichbedeutend mit "Gott ist", der Gottesbeweis
Edith Steins lautet: Ich bin, also ist Gott.
Der Physiker, Mathematiker und Astronom Arthur C. Clarke
(1917-2008) las während seiner Kindheit auf einem englischen
Bauernhof leidenschaftlich gerne amerikanische Science
Fiction Literatur, wofür er sein ganzes Taschengeld opferte.
Früh begann er mit dem Schreiben eigener SF-Erzählungen.
Seine ersten professionellen Veröffentlichungen erschienen
in „Astounding“ im Jahr 1946, so vor allem eine seiner
erfolgreichsten Geschichten, „Rescue Party“. 1948
veröffentlichte er seine - indirekt - bekannteste
Geschichte, „The Sentinel“, auf der Stanley Kubricks Film
„2001. Odyssee im Weltraum“ beruht. „The Nine Billion Names
of God“ schrieb er im Mai 1952.
Bis zum letzten Satz liest sich dieser Text in
vordergründiger Lektüre wie eine Verhöhnung bigotter
buddhistischer Mönche, die einer Wahnidee frönen, nämlich
dem Plan, alle Namen Gottes niederzuschreiben, die sich aus
einem Alphabet aus neun Buchstaben, über das wir nichts
Näheres erfahren, bilden lassen – unter Beachtung einiger
Regeln, von denen wir nur eine kennenlernen, nämlich die
Regel, dass kein Buchstabe mehr als dreimal hintereinander
erscheinen dürfe.
Der Lama des Klosters, das sich dieser Aufgabe widmet, reist
in die USA, um bei einem Computerbauer zwei Rechner und das
zugehörige Personal auf drei Monate zu leihen, damit die
bislang händisch durchgeführte Arbeit beschleunigt werden
könne. Denn ohne Rechnerunterstützung würde das Projekt etwa
15.000 Jahre benötigen, mit Rechner einige hundert Tage,
trägt der Lama vor.
Zwei Computertechniker reisen aus den USA nach Tibet, in die
Berge des Himalaya, um das Projekt umzusetzen. Sie
langweilen sich entsetzlich in der klösterlichen
Abgeschiedenheit und erschrecken, als der Lama einem von
ihnen das Resultat des Schreibprojektes offenbart: Sind alle
Namen Gottes ausgeschrieben, endet die Welt. Für die
buddhistischen Mönche eine Verheißung, für die beiden
amerikanischen Techniker eine Bedrohung. Denn was wird
geschehen, wenn die Verheißung nicht eintritt – wovon die
nüchternen Amerikaner selbstverständlich ausgehen? Wird eine
wütende Mönchsschar sie zur Rechenschaft ziehen, gar töten?
So machen die beiden sich unter Einsatz einer kleinen
Manipulation am Rechner aus dem Staub, ehe der letzte
Gottesnamen niedergeschrieben ist.
Erst im letzten Satz der Geschichte zeigt sich, dass der
Autor auf der Seite der Mönche steht, dass die selbstbewußt
aufgeklärten Programmierer bei ihm die Narren sind: Die
Sterne erlöschen, als die beiden sich dem Flugzeug nähern,
das sie sicher vor der erwarteten Rache der Mönche zurück in
die Heimat bringen sollte: „Overhead, without any fuss, the
stars were going out.“
Dass die Schöpfung endlich sei, ist eine Vorstellung, die
bereits in der Heilsgeschichte des Christentums enthalten
ist. Und sie verträgt sich mit der Theorie des (zunächst
kritisch so genannten) Big-Bang, des Urknalls, die
unmmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Aufsehen
erregte. Clark rekurriert mit seinem Plot allerdings auf die
Bedeutung des Gottesnamens in den monotheistischen
Religionen. In der Kabbalah begegnen uns verschiedene
Konzepte, die mit einer bestimmten Anzahl an Gottesnamen
operieren. Da sind zum einen die 10 Sefirot am Lebensbaum,
denen 10 Eigenschaften und damit Namen Gottes entsprechen.
Im 13. Jahrhundert leitete der spanisch-jüdisch-arabische
Kabbalist Abraham Abulafia aus dem Buch Exodus 72 Namen
Gottes ab, die jeweils durch eine Buchstabentriade gebildet
sind. Sie entsprechen den 72 Engeln des Tanach, womit ein
Aussprechen des Ha-Shem Ha-Mephorash, des vollständigen
Gottesnamens, umgangen wird. Ist doch der vollständige
Gottesnamen seit der Zerstörung des Tempels von Jerusalem
tabuisiert.
1966 redigierte der Autor eine Sammlung seiner
Kurzgeschichten, die insgesamt den Titel „The Nine Billion
Names of God“ trägt und mit unsere Erzählung beginnt.
Jahrzehnte später schickte der Autor diesen Band (sowie
seine Essay-Sammlung „Spring: A Choice of Future“) an den
Dalai Lama, der ihm im Februar 1997 kurz und freundlich
dankt und die titelgebende Geschichte als „particularly
amusing“ heraushebt. Clarke bezeichnete diese Antwort in
seinen „Collected Stories“ als „a charming response from the
highest possible authority“. Zusammen mit anderen Äußerungen
Clarkes lässt dies darauf schließen, dass der Autor die
Geschichte durchaus auch theologisch ernst genommen sehen
wollte, nicht in all ihren Konsequenzen, aber doch in den
impliziten Erwägungen.
Quelle: Arthur C. Clarke, The Nine Billion Names of God,
1952
Der Fall Rautavaara
Noch eine zweite bemerkenswerte Auseinandersetzung mit
Gottesbildern aus der Science Fiction möchte ich vorstellen.
Philip Dick (1928-1982) veröffentlichte 1980 die kurze
Erzählung "Rautavaara's Case". Darin verunglückt ein
kosmischer Reparaturservice von der Erde mit seinem
Raumschiff in einem fernen Sonnensystem. Dabei sterben zwei
Besatzungsmitglieder, das dritte, eine Frau namens Agneta
Rautavaara, überlebt dankt der Intervention einer fremden
Intelligenz, allerdings nur als Gehirn, ihr Körper wird -
aufgelöst in seine Bestandteile - von den Rettern dazu
benutzt, das Gehirn am Leben zu erhalten. Dieser Frau,
diesem Gehirn erscheint dann Christus, der sich zunächst
schon klischeehaft bibelgemäß verhält und auch so spricht.
Die fremde Intelligenz beobachtet dies und beschließt, in
das Gehirn Rautavaaras die eigene Gottesvorstellung
einzuschleußen. Schockiert muss Rautavaara dann mit
anschauen, wie das, was sie für Christus gehalten hatte,
einen der beim Unfall verstorbenen Besatzungskollegen
Rautavaaras aufisst mit den Worten "Er ist mein Leib. (...)
Indem ich seinen Leib esse, erlange ich ewiges Leben. Dies
ist die neue Wahrheit, die ich jetzt verkünde".
Die fremde Intelligenz ist mit dieser Entwicklung hoch
zufrieden und betrachtet den Vorgang als wissenschaftliches
Experiment mit theologischer Relevanz, das weiter verfolgt
werden sollte. Das Gehirn Rautavaaras erlaube einen Blick in
das Leben nach dem Tode. "Mit Hilfe ihres beschädigten
Hirns, das von einem fehlgeleiteten Roboter
wiederhergestellt war, standen wir in Verbindung mit der
nächsten Welt und den Mächten, die sie beherrschten." (Dick
2000, S. 295) Die entscheidende theologische Differenz mit
den "Erdmenschen" benennt die fremde Intelligenz, die als
"polyenzephales" Plasma existiert, wie folgt: "Sie trinken
das Blut ihres Gottes; sie essen sein Fleisch; so werden sie
unsterblich. (...) Ein Greuel, eine Schande - eine einzige
Abscheulichkeit. Das Höhere sollte sich immer vom
Niedrigeren ernähren; der Gott sollte die Gläubigen
verzehren." (Dick 2000, S. 301) Der von den "Erdmenschen"
beantragte Untersuchungsausschuss sieht jedoch in den
Wahrnehmungen Rautavaaras nichts weiter als Halluzinationen
und verfügt die Abschaltung des Gehirns.
1975 hatte der Mediziner und Philosoph Raymond A. Moody in
den USA sein Aufsehen erregendes Werk über Nahtoderfahrungen
veröffentlicht, "Life After Life". Darin teilt er auch mit,
dass einige seiner Patienten davon überzeugt sind, Christus
begegnet zu sein. In ihrem Vorwort macht die Psychiaterin
Elisabeth Kübler-Ross deutlich, dass die religiöse Gestalt,
von der die Patienten Raymond Moodys (und nebenbei auch ihre
eigenen Patienten) erzählten, "natürlich ihren
Glaubensüberzeugungen entsprach" (Moody 1977, S. 10). Wir
können davon ausgehen, dass Dick diese Publikation kannte
(er war äußerst belesen und umfassend gebildet) und sie ihn
zu seiner Rautavaara-Geschichte inspirierte, neben eigenen
Jesus-Visionen, von denen Dick bereits 1974 berichtete. Sein
Text verdient durchaus auch eine Lektüre unter theologischen
Gesichtspunkten, auch wenn die saloppe, oft grob nachlässige
Schreibweise Dicks dem inhaltlichen Gewicht seiner Erfindung
nicht gerecht wird. Es ist zu vermuten, dass er selbst die
kulturelle, letztlich auf physiologischen Unterschieden
basierende Deutung der beiden unterschiedlichen
Christus-Erfahrungen für eher banal hielt. Eine breiter
aufgefächerte Auseinandersetzung mit dem Christus-Komplex
zeigt seine Valis-Trilogie, an der er in der gleichen Zeit
bis kurz vor seinem Tod schrieb.
Quellen: Philip K. Dick, Der Fall Rautavaara, 2000 Ramond A. Moody, Leben nach dem Tod, 1977 (zuerst
engl. unter dem Titel "Life After Life", 1975)